Gute acht Jahre habe ich gebraucht, um erwachsen zu werden. Andere brauchen achtzehn. Achtundzwanzig oder gar achtundvierzig. Doch das ist keine besondere Leistung. Es ist einfach passiert.
Ich bin nicht etwa alt geboren. Gemäss meiner Mutter, einer in diesen Dingen zuverlässigen Quelle, war ich ein ganz normales Baby. Nicht anders als meine Brüder. Doch vom ersten Tag an entwickelte sich mein Geist sehr viel schneller als mein Körper. Der Körper konnte nicht mithalten. Ich meine damit nicht nur, dass ich die Zeitung lesen konnte, als ich mich noch an der Tischkante hochziehen musste, um die Buchstaben zu sehen. Das erste Zeichen, immer laut meiner Mutter, war, dass ich den Kopf von ihrer nackten Brust wegdrehte, die Augen schloss, als schämte ich mich.
Mangels Verständnis werde ich allerdings als Kind behandelt, als besonderes Kind zwar, ich gelte als hochbegabt. Das bin ich nicht. Ich bin nur sehr viel älter, als ich aussehe. Wenn ich sage, ich bin erwachsen, meine ich das nicht im rechtlichen Sinne, ich kann weder meinen Lebensunterhalt selber verdienen (auch wenn ich meinem Vater regelmässig Anlagetipps gebe) noch zahle ich Steuern. Würde ich ein Verbrechen begehen, würde ich nicht dafür bestraft werden. Es käme schon gar niemand auf die Idee, mich zu verdächtigen. Dieses Wissen macht mich aber nicht übermütig, sondern traurig. Ich bin ein ernsthafter Mensch.
Mein Leben ist nicht leicht. Ich besuche eine Privatschule für Hochbegabte. Auch hier fühle ich mich fremd. Selbst wenn ich mit meinen Klassenkameraden fruchtbare Diskussionen führen kann, ihr Gefühlsleben ist kindlich. Sie bewegen sich gern. Ihre Spiele sind grob. Oft, oder meist, sind Bälle involviert, rennen, schwitzen, rufen, übereinander herfallen wie raufende Hunde. Ich halte mich zurück. Ich verschanze mich hinter einem Buch. Am liebsten lese ich Selbsthilfebücher aus dem Regal meiner Mutter, mit einem Harry-Potter-Umschlag getarnt. Aber bis jetzt habe ich nichts gelesen, das mir helfen würde. Frau Messaui, meine Physiklehrerin, hat mir die «Finanz und Wirtschaft» weggenommen, und überhaupt das Mitbringen von Zeitungen zum Unterricht verboten. Aber gegen Bücher kann sie nichts sagen, meine Lehrerin, die schöne Amanda Messaui, die meine Avancen nicht ernst nimmt. Gleich am ersten Schultag habe ich mich in sie verliebt, da war ich noch jung, knapp sechs Jahre alt, ein Jüngling sozusagen, ein junger Wilder. Meine Liebe ist gereift seither, erwachsen geworden, mit mir. Das versteht sie nicht, und ich kann es ihr nicht verdenken. Wenn ich zufällig in einer Fensterscheibe einen Blick auf mein Spiegelbild erhasche, erkenne ich mich nicht: Wer ist dieses Kind?, denke ich. Dieses Kind bin ich.
Die Einzige, die das versteht, ist meine Grossmutter, die im Spiegel eine alte Frau sieht, die sie ebenso wenig erkennt. Wer ist diese alte Schachtel, denkt meine Grossmutter und geht kopfschüttelnd weiter. Hand in Hand gehen wir durch die Stadt und weichen den Schaufensterscheiben aus. Wir setzen uns in ein Strassencafé, damit sie rauchen kann. Ich halte ihr einen Vortrag über die gesundheitlichen Risiken des Nikotinkonsums.
«Wenn du mir versprichst, dass ich dann nicht sterbe, höre ich sofort damit auf!» Sie lacht. Ich lache nicht mit. Ich will nicht über ihren Tod nachdenken.
Sie schaut mich an und bläst seufzend den Rauch aus. «Es ist einfach nicht recht», sagt sie. «Bald muss ich sterben, und ich bin doch eben erst erwachsen geworden.»
Bei ihr war es umgekehrt, bei ihr ging es sehr sehr lange. Sie war mit vierzig noch ein Backfisch. Meine Mutter, die Tochter meiner Grossmutter, nimmt ihr das heute noch übel. Das, und die Partys, und die Schulden, und die betrunkenen Anrufe mitten in der Nacht. Wenn erwachsen sein bedeutet, die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und die Folgen dieses Handelns einschätzen zu können, dann ist meine Grossmutter bis heute nicht erwachsen.
«Warum tust du das?», frage ich und ziehe den silbernen, schön ziselierten Zuckerstreuer, der eben noch auf unserem Tisch gestanden hatte, aus ihrer Handtasche. Sie zuckt nur die Schultern und schiebt die Lippen vor: «Du bist langweilig!»
Ich lese meiner Grossmutter einen Brief vor, den ich Frau Messaui schicken will. Nach der Hälfte nimmt sie ihn mir aus der Hand und zerknüllt ihn.
«Vergiss es, mein Schatz. Niemand sieht das Alter des Herzens.»
Grossmutter hat sich in ihren Physiotherapeuten verliebt, einen schönen Surinam-Holländer. Sie war sich ganz sicher, dass die Anziehung erwidert wurde, doch als sie ihm eines Tages nackt entgegentrat, rief er die Polizei. Am schlimmsten war, dass ihr Verhalten nicht als übermütiges Liebeswerben gesehen wurde, sondern als Zeichen von beginnender Demenz. Das Begehren stand ihr nicht mehr zu. Nicht in diesem Körper.
«Ich weiss», sage ich und lege meine Hand auf ihre. So lange muss ich noch leben, denke ich, und bin doch schon erwachsen. Wir schauen auf unsere Hände, ihre runzlige, gefleckte, meine weiche, weisse; Hände, die uns nicht gehören, Hände, die nicht zu uns passen, und beide schauen wir weg.
Milena Moser
Milena Moser ist 1963 in Zürich geboren. Nach einer Buchhändlerlehre fing sie an zu schreiben. Bereits ihr erster Roman «Die Putzfraueninsel» wurde 1991 zum Bestseller. Es folgten weitere Romane und Erzählungen. Moser gibt zusammen mit Autorin Sibylle Berg und Agentin Anne Wieser Schreibkurse in ihrem Atelier in Aarau. Vor kurzem ist ihr Roman «Montagsmenschen» bei Nagel & Kimche erschienen. Die Autorin hat zwei Söhne und lebt in Aarau.