zähne frisörin (nach w.c.w.)
von zähnen
die frisörin
die frisörin
sprach
du hast ja mega lange haare
sprach
und schnitt mein leben
mit schon fliegendem blick
weine nicht
die wachsen nach
sprach
ich zu meiner puppe herbert
du hast glück
sprach die frisörin
ich höre auf
bald bin ich weit
sprach
weg im französischen
dorf meiner kindheit
in der bar mit jugendfreunden
auf dem töff eines geilen typen
ich krieg immer einen drink
sprach
meine eltern
in rage
sprach
und dünnte mein leben
wahllos aus
sprach
reden nicht mehr mit mir
dabei hat mein vater
seit den 70ern
sprach
ein gebiss
sprach
weil ihm in rom
im gefängnis
lsd
alle zähne ausgeschlagen
sprach
und ich
will auch nicht mehr brav sein
treff beim berg einen alten
dem sein goldring in den
finger gewachsen wenn den jemand
erben soll muss der finger erst ab
das amüsiert den alten
wie seine nachfahren mit der laubsäge
gierig vor der mauloffnen leiche
stehn und zögern wie es sie in den fingern
juckt
kann ihm gar nicht zuhören
geschwollne ohrläppchen
aufgeweichte fleischige saubohne
so eine schöne art zu reden schöne finger so gepflegte
fingernägel bricht plötzlich
husten aus ihm schwarz
und mächtig wie der tod in ihm geduldig
wartet weiss ja
dass er gewinnt
er lebt in berlin und siracusa
kann nicht autofahren hat einen chauffeur
das hab ich seinen händen schon angesehen
dass der ein sonniges leben hat
künstler
heute bin ich weniger lustig als sonst
sagt eine
sagt der andere
ich auch
und wie er einmal an silvester geweint hat
sind alle in meinem atelier
und klackern auf der schreibmaschine
und durchwühlen die regale
und schauen aus dem fenster
und laberlaberlaber
ich lege die napoletanische fischer platte auf
setz mich hin und geh auf facebook
alle gehen
ausser antoine
so rede ich mit dem
im morgenmantel
erkläre ich ihm
die russischen meister
bis seine augen verdrehen und zuklappen
dann scheuch ich ihn zum teufel
kapitalismus, einfache rechnung
jemand kauft einen riesigen fernseher
+
jemand schläft in dessen karton
=
win win
Michelle Steinbeck
Die Autorin und Journalistin ist 1990 in Lenzburg AG geboren, in Zürich aufgewachsen und lebt heute in Basel. Sie studiert Philosophie und Soziologie und schreibt Geschichten, Gedichte, Theaterstücke, Kolumnen und Reportagen. Mit ihrem Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» (2016) war sie für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert. Ihr neuer Gedichtband «Eingesperrte Vögel singen mehr» erscheint am 8. Oktober bei Voland & Quist.
Buch
Michelle Steinbeck
Eingesperrte Vögel singen mehr. gedichtet und geträumt
96 Seiten
(Voland & Quist 2018)