Michèle Minelli - Quer durch die Welt   geschichte getrieben
Die Zürcher Autorin Michèle Minelli hat mit «Die Ruhelosen» eine gewaltige Familiensaga geschrieben. Und ist damit fast gescheitert.
Inhalt
Kulturtipp 07/2012
Rolf Hürzeler
Das ist ein Buch zum Weglegen. Um doch gleich wieder danach zu greifen. «Die Ruhelosen» erzählt eine Variante der Familiengeschichte der 43-jährigen
Autorin Michèle Minelli – von Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, rund 750 Seiten. Minelli führt die einzelnen Stränge ihrer Familiengeschichte zusammen; sie beschreibt Episoden, wie sie sich in der Vergangenheit zugetragen haben könnten. Die Autorin blickt zurück...
Das ist ein Buch zum Weglegen. Um doch gleich wieder danach zu greifen. «Die Ruhelosen» erzählt eine Variante der Familiengeschichte der 43-jährigen
Autorin Michèle Minelli – von Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, rund 750 Seiten. Minelli führt die einzelnen Stränge ihrer Familiengeschichte zusammen; sie beschreibt Episoden, wie sie sich in der Vergangenheit zugetragen haben könnten. Die Autorin blickt zurück nach Ungarn in der Donaumonarchie und nach Oberitalien, wo sie Spuren ihrer Vorfahren entdeckte. Menschen aus allen Schichten – vom Proletariat bis zum Adel mit allen bürgerlichen Abstufungen dazwischen.
Minelli ist am besten, wenn sie Abstand zu den Geschehnissen hat und ihre Fantasie spielen lässt – also möglichst weit zurück in der Geschichte. Da schwingt sie zur erzählerischen Meisterschaft auf. Wunderbar, wie sie etwa die seelischen Nöte der «Giraffe», der hoch gewachsenen Italienerin Costanza Modigliani, beschreibt, die von ihrem Vater zu einer Zwangsheirat verdonnert wird: «Sie schluckte ihre Abscheu, ihre Angst, ihren Ärger hinunter und beschränkte sich auf ein traumloses, hoffnungsloses Leben, das jeglicher Fantasie entbehrte …» Der Leser spürt, wie sich ein Drama abzeichnet. Es sollte zu einer jener Legenden werden, die über Generationen durch die Familiengeschichte geistern. Ein dunkles Geheimnis, das so tief im familiären Bewusstsein verankert ist, dass es niemals vergessen gehen kann. Bis zur gedanklichen Befreiung: «Das muss eine Wende haben, dieses Weiterreichen von Schicksalen, die Vorbestimmung, für die man letztlich doch nichts kann, die einen fast erstickt», sagt die Mutter der Autorin, die sich im Roman selbst hinter einem Alter Ego versteckt hält.
Herrlich auch, wenn Michèle Minelli ihren Vorfahren Frantisek Schön beschreibt, der in der Donaumonarchie edle Damenhäupter frisierte: «Zwar war er kein Leibeigener des Schlosses, aber es wurde dennoch nicht gern gesehen, wenn der berühmteste Frisuren- und Perückenmacher nicht uneingeschränkt zur Verfügung stand.» Soviel zu den Machtverhältnissen vor 150 Jahren. Eine der noblen Damen verguckt sich in den Figaro, der Skandal ist perfekt.
Stets auf der Suche
Leider hat sich Autorin Minelli mit ihrer Familiengeschichte zu viel vorgenommen. Und darum ist man nach der Lektüre von zwei Dritteln immer wieder der Versuchung ausgesetzt, das Buch wegzulegen. Bis in die Zeit vom Zweiten Weltkrieg liest sich die Familiengeschichte gut und ist spannend. Die Nachkriegszeit bis heute ist jedoch langfädig, vieles wird angetönt, nichts differenziert ausgeführt – mit Ausnahme der Fremdenfeindlichkeit. Emigration und Integration sind die verbindenden Elemente dieses Buchs. Die Menschen sind Getriebene, sie sind stets auf der Suche, sei es nach dem materiellen Glück, nach politischer Sicherheit – und meist wegen der Liebe.
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Michèle Minelli
«Die Ruhelosen»
752 Seiten
(Aufbau Verlag 2012).
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