Nüchterne Polizeisprache für ein menschliches Drama: «Auf der Sohle dieser Mulde liegt der Leichnam eines Knaben auf dem Rücken; der Kopf, gegen Norden gerichtet, liegt frei u. ist bereits von Kopfhaaren u. Kopfhaut entblösst; das gegen Westen gerichtete Gesicht ist in starker Verwesung …» Dies die Beschreibung zum Fund des fünf jährigen Ernstli Keller, der im Mai 1904 im Hagenbuchwald bei St. Gallen von seiner Mutter Frieda Keller erdrosselt worden war.
Die Zürcher Autorin Michèle Minelli rollt diesen Fall in ihrem Roman «Die Verlorene» neu auf. Für Minelli ist die Täterin das Opfer, denn sie war mit ihrem geistig behinderten Sohn heillos überfordert. Sie litt als alleinstehende Mutter unter Geldnot und gesellschaftlicher Ächtung. Frieda Keller (1879–1942) wurde zwar vom St. Galler Kantonsgericht zum Tod verurteilt, später aber begnadigt und lange in Einzelhaft gehalten. Nach ihrer vorzeitigen Entlassung kam sie mit dem Leben nicht mehr zurecht; Frieda Keller landete in Kliniken, verstarb in Münsterlingen – ein verpfuschtes Leben.
Heftige Debatten
Der Fall sorgte seinerzeit landesweit für Aufsehen: Frauenrechtlerinnen setzten sich für Frieda Keller ein; in juristischen Kreisen sorgte das Schicksal dieser Mörderin für heftige Debatten. In den Augen des Berner Sozialkritikers Carl Albert Loosli belegte ihr Schicksal die gesellschaftlichen Missstände.
Tatsächlich muten die damaligen gesetzlichen Bestimmungen skandalös an: «Denn einmal verdiene eine Weibsperson, die sich mit einem Ehemann einlasse, keine Gunst des Gesetzes, sondern dass sie alle Folgen ihrer Unsittlichkeit selbst betreffen müsse …» Der Journalist Peter Holenstein griff den Fall vor zwei Jahren auf und stellte Minelli das Material für den Roman zur Verfügung.
Ein Opfer der Justiz
Frieda Keller wuchs in Bischofszell in bescheidenen Verhältnissen auf. Sie lernte Schneiderin, arbeitete als Serviererin zeitweise im Gasthaus Post, wo der Wirt Carl Zimmerli sie mutmasslich vergewaltigte: «Er kam mir nach, und ich war verloren.» Zimmerli bestritt die Tat zeitlebens.
Die 46-jährige Schriftstellerin Michèle Minelli versteht sich mit ihrem neuen Roman als Advokatin; für sie ist die junge Frieda Keller vor allem das Opfer einer rachsüchtigen Justiz. Diese Sichtweise lässt Minelli streckenweise haarscharf am Sozialkitsch vorbeischrammen: «Zwei traurige Frauen an einem Bahnsteig im Abendlicht. Die Sonne warf ein scheckiges Muster über den Schotter und die Geleise, ein Sperling pickte in der Wärme Krumen.» Eine Abschiedsszene zwischen Frieda Keller und ihrer Mutter.
Michèle Minelli schrieb eine lesenswerte Geschichte, auch wenn einem das Schicksal der Frieda Keller nach mehr als 100 Jahren nicht mehr ganz so nahe geht. Streckenweise hätte man sich etwas mehr Distanz der Autorin zu dieser Cause célèbre gewünscht.
Buch
Michèle Minelli
«Die Verlorene»
372 Seiten
(Aufbau 2015).
Szenische Lesungen
Mit Michèle Minelli und Peter Höner
Fr, 10.4., 20.00 Bücher Scheidegger Affoltern ZH
Do, 23.4., 19.00 Buchhandlung Klappentext Weinfelden TG