Eine gefühlte Ewigkeit war das nun her, dass er seinen Bruder zu Grabe getragen hatte, an jenem Wintertag. Mit Eloquenz und Bakschisch hatte er minjan zusammenbekommen, also zehn Erwachsene, die stets erforderlich sind, um gemeinsam zu beten. Es hatte sich doch nebbich kaum jemand seiner erinnert hier in Frankfurt, von wo er vor über 50 Jahren weggegangen war. Doktor Perlmann war gekommen, dazu der Rabbi und vier Friedhofsangestellte, macht sechs.
Dann noch eine unbekannte Verehrerin. Und der Schammes, ein Schnorrer, der immer dabei war. Und er. Keine Blumen, wie es sich gehörte, eine Rede, Kaddisch, Erde auf den Sarg, stummes Händeschütteln. Aus. Vorbei. Drei Jahre war Alfred nun unter der Erde. War es Corona? Man würde es nie wissen. Ungerecht eigentlich, denn er, Moritz, war der Ältere, er hätte vor ihm gehen sollen. Müssen. Aber der Algorithmus des Todes entzog sich der empirischen Logik.
«Professor Kleefeld, schön, Sie zu sehen», hörte er eine Stimme sagen, «Sie haben also die Pest gut überstanden!». Neben ihm war Jacky Meyer, der Friedhofsschammes, aus dem Nichts aufgetaucht, wie ein Erdgeist. «Hab Sie gar nicht kommen sehen», sprach der kleine Mann weiter, «sonst sehe ich doch immer jeden reinkommen, aber Sie habe ich nicht gesehen. Warum habe ich Sie nicht gesehen?». Moritz lächelte. Überflüssige Sätze hatte er vernommen, aber so waren die Menschen.
Das meiste war überflüssig. «Lassen Sies gut sein, Meyer, jetzt sehen Sie mich ja. Wie finden Sie den Grabstein?» «Schön. Sehr schön. Ein wirklich geschmackvoller Grabstein.» «Er hat viel Besuch gehabt inzwischen», sagte Moritz. «Das sind doch mindestens zehn, zwölf Steine, die dort liegen. Bei meiner Fanny liegen nur meine.» «Na ja», sagte Jacky Meyer, «er hatte im Leben grosses Publikum und auch im Tod, so ist das. Ihre Frau war doch immer bescheiden. Zu bescheiden».
«Da haben Sie recht, Meyer. Hier …» Er zog seine Brieftasche hervor und drückte dem Friedhofsschammes einen Zwanzig-Euro-Schein in die Hand. «Aber Professor», sagte der Mann mit gespielter Verlegenheit, «das ist doch nicht nötig». Jacky Meyer verbeugte sich kurz und ging davon. Zerberus! Alle Toten hier sind deine Toten, und du musst aufpassen, dass dir keiner abhandenkommt, bevor der Messias sie zu sich ruft, dachte der Professor und schaute dem kleinen Mann hinterher, bis er hinter der Buchsbaumhecke unsichtbar wurde.
Als er zur Strassenbahnhaltestelle kam, begann es zu nieseln, aber Moritz vermied es, sich unter das durchsichtige Dach zu stellen. Auf der Bank – wer entwirft eigentlich immer diese geschmacklosen, unbequemen Bänke an Haltestellen, diese «Urbanmöbel»?, dachte er – sass ein schreckliches Pärchen. Beide so um die 20, übergewichtig, tätowiert und gepierct.
Dieser Anblick stiess ihn ab, ja, rief Ekel hervor. Das hatte einmal damit zu tun, dass Tätowierungen bei Juden traditionell tabu waren und seit Auschwitz sowieso. Der Mensch hat seinen Körper von Gott nur geliehen, geleast sozusagen, und musste ihn unversehrt zurückgeben. Professor Kleefeld sah die beiden unauffällig an. Machen Tattoos und Piercings hässlich, oder sind es überwiegend hässliche Menschen, die sich piercen und tätowieren lassen?
Diese Frage stellte er sich jedes Mal, wenn er solche freiwillig entstellten Figuren sehen musste, die sich Nadeln durch Lippen und 20 Ringe durch Nasenflügel oder Ohrläppchen steckten. Machten sie sich Gedanken darüber, wenn der Partner sie verlassen und der Name auf dem Arm zu einer Herzenswunde würde oder wie das Tattoo in 50 Jahren aussähe, wenn die Haut zu runzeln begänne? Natürlich nicht. Sie leben im Hier und Jetzt, wie die beiden auf der Bank.
Sie trinken Bier aus Dosen, lachen über fahle Witze und warten auf die Bahn, die sie zu einem Ort bringt, wo sie mit anderen Gepiercten und Tätowierten zusammensitzen, um Bier aus Dosen zu trinken und über fahle Witze zu lachen. Als die Bahn kam, liess Kleefeld ihnen den Vortritt. Es war für ihn unerträglich, die beiden hinter sich zu wissen.
Er mochte es, in Frankfurt mit der U-Bahn zu fahren, denn es war gar keine echte U-Bahn. Anders als in den traditionellen U-Bahn-Metropolen wie Paris oder London, wo sie Namen hatten wie «Métro» oder «The Tube», hatte man hier die namenlose Strassenbahn ganz profan in der Innenstadt unter die Erde verlegt, fast entschuldigend, um sie ein paar Kilometer weiter rasch aus der Tiefe kommen zu lassen, dort, wo die Stadt weitläufiger wurde und die Häuser niedriger. Wie ein neugieriger Wurm kam die Bahn plötzlich wieder ans Licht. So fuhr man durch kleinbürgerliche Welten und konnte mit den Augen flanieren. In den Vororten gab es noch Geschäfte wie früher: Elektro-Schmidt, Klempnerei Müller, Meier Feinkost, Willy’s Tierbedarf.
Stets versuchte er, einen Sitzplatz am Fenster und in Fahrtrichtung zu bekommen, aber auch das war nicht selbstverständlich. Zu seiner Zeit (auch so ein merkwürdiger Begriff) sprangen junge Menschen noch von ihrem Sitz auf, um älteren Platz zu machen, aber heute sassen junge Mütter neben unerzogenen Kindern, kauten synchron Kaugummi, glotzen auf ihre Smartphones und ignorierten die Alten und Gebrechlichen, die sich in den Kurven nur mühsam auf den Beinen halten konnten.
Andererseits, so musste es Moritz sich eingestehen, war er manches Mal fast beleidigt, wenn ein junger Mensch für ihn aufstehen wollte, denn das war der Beweis, dass er alt rüberkam. Alt zu werden, so kam ihm in den Sinn, kann man sich nicht vorstellen, man kann es nur selbst erfahren. Alt wurde man nicht, alt war man schlagartig. Ein denkwürdiges Zitat frei nach Oscar Wilde kam ihm in den Sinn: Die Tragödie des Alters besteht darin, dass man jung bleibt …
Zur Person
Michel Bergmann wurde 1945 als Kind internierter jüdischer Flüchtlinge in Riehen bei Basel geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Paris, seine Jugend in Frankfurt am Main.
Nach dem Studium arbeitete er als Journalist, später als Regisseur und Produzent, seit 1990 auch als Drehbuchautor («Otto – Der Katastrofenfilm» u. a.). Sein siebter Roman «Mameleben» ist kürzlich bei Diogenes erschienen. Michel Bergmann lebt in und bei Berlin.