Auf einem Spielplatz in Kayenta, Arizona, machte ich Pause. Der Spielplatz war riesig und fast leer. Die Geräte waren aufgeteilt: für Kinder bis 5 Jahre und für Kinder von 5 bis 12 Jahre. In der Umgebung wohnten Navajos in grossen Fertighaussiedlungen. Ich benutzte nach dem langen Autofahren eine Rutschbahn zur Auflockerung. Ein Bettler kam schnurstracks auf mich zu. Er habe schlechte Knie, komme von den Bergen runter, habe wegen seiner schlechten Knie das Mittagessen im Senioren-und-arme-Leute-Zentrum verpasst. «I don’t want to be rude, but … my name is Key and …» Er wollte sofort Geld, roch stark nach Alkohol, obwohl in der ganzen Navajo-Nation nichts getrunken werden durfte. Das Geld wollte Key für zwei Cheeseburger, Fries, Cola und einen Milchshake, das wären dann mindestens zehn Dollar.
Ein Navajo, so die Regel, darf einem anderen einen Wunsch nicht abschlagen. Man würde einem Kollegen ein Auto leihen, auch wenn man wüsste, dass dieser damit ins nächste Dorf fahren, sich volllaufen lassen und das Auto, wenn überhaupt, stark verbeult zurückbringen würde. Ich habe Key von meinen Picknickresten einen geschmackvollen Bagel zubereitet. Den Bagel habe ich aufgeschnitten und mit Tomaten und Käse belegt, danach habe ich alles in eine Serviette gewickelt und das Ganze in Keys Hände gelegt. Dazu habe ich noch einen Apfel in Scheiben geschnitten und ihm diesen ebenfalls angeboten.
Key kannte Italien, wusste, dass es dort Berge gab, die Schweiz kannte er nicht. Ich bat Key, sich zu setzen, und schnitt mir ebenfalls einen Bagel auf. Wir assen eine Weile gemeinsam, dann fragte Key mich wieder nach Geld. Ich bot ihm an, dass er mir eine Geschichte erzählen könne, dann würde ich zahlen. Er zögerte und meinte, man dürfe fürs Geschichtenerzählen kein Geld nehmen. Ich schlug vor, dass ich ihm eine Geschichte erzählen und er mir dabei zuhören könne. Danach würde ich ihm zehn Dollar geben, und er würde mir eine Geschichte erzählen. Damit war Key sofort einverstanden. Bevor ich anfing, fragte ich Key noch nach seinem richtigen Namen.
«Mein Name?» Er zögerte.
«Wieso willst du den wissen?»
«Damit ich weiss, wem ich die Geschichte eigentlich erzähle.»
«Ich sag dir meinen Namen, aber du darfst ihn nicht weitersagen!»
«Warum nicht?», fragte ich.
«Jemand könnte mich verhexen!», sagte Key, der eigentlich Liwanu hiess. Jeder Navajo hat zwei Namen: einen für die Fremden, und einen, den nur engste Familienmitglieder kennen.
Ich erzählte Liwanu also eine Geschichte, in der ich eine Rolle spielte. Sofort unterbrach er mich und forderte, dass ich, sobald es Platz dafür gebe, jemand anderen in der Geschichte eine Rolle spielen lassen sollte. Ich versuchte eine andere Geschichte und erzählte ihm von zwei Bären mit Kopftüchern auf ihren Bärenschädeln, die auf zwei Rollbrettern in die Stadt fuhren. Warum? Weil immer mehr Menschen in die Wälder zogen, mussten die Bären immer öfter in die Stadt ausweichen und sich dort in leeren Wohnungen neue Bärennester bauen. Die Bären traten dazu die Tür einer leeren Wohnung ein, benutzten ihre Bärennasen, um übrig gebliebene Nahrungsmittel aufzuspüren, und suchten sich je ein Zimmer. Unnütze Möbel warfen sie aus dem Fenster oder die Treppen runter. Ein Bär braucht kein Bett, sondern nur eine Ecke. Ein Bär legt seinen Schädel in diese Ecke, wenn er schlafen will.
Liwanu fand die Geschichte mit den zwei Bären sehr gut. Er fragte mich, ob die Bären nicht irgendwann die Schnauze voll hätten von den Menschen, die in ihre Wälder kämen.
Ich schaute Liwanu an, und er schaute mich an. Dann sagte er, dass er es gut fände, wenn die Bären zu einem Zauberbären gehen und diesen darum bitten würden, die Menschen aus den Wäldern zu zaubern, oder sie so zu verwandeln, dass sie nicht mehr so stark störten.
Im Glauben der Navajos ist die Natur immer ordentlich, harmonisch und im Gleichgewicht. Diesen Zustand nennen sie «hozho». Es gibt Dutzende von aufwendigsten Ritualen, die auf die eine oder andere Weise dazu dienen, diesen Zustand der Harmonie wiederherzustellen. Liwanu wünschte sich für die Bären in meiner Geschichte genau dies.
Gut. Ich überlegte und erzählte die Geschichte weiter.
Der Zauberbär machte schnipp mit der Bärentatze, und aus allen Menschen wurden Spielzeugmenschen. Aus allen Autos wurden Spielzeugautos, aus allen Sesseln Spielzeugsessel, es gab nur noch Spielzeugflugzeuge und nur noch Spielzeugschlösser, Spielzeugfischer, Spielzeugärzte, Spielzeugkanus, Spielzeugferienhäuser, Spielzeugstrassen, Spielzeugpolizisten. Liwanu lachte. Das sei sehr praktisch, wenn man ein Geschenk brauche und alles schon Spielzeug sei, dann müsse man ja gar nicht mehr in einer Schlange anstehen, um etwas zu kaufen. Es gab also für die Spielzeugmenschen in ihren Spielzeugwohnungen Spielzeugkleiderbügel, sie telefonierten mit Spielzeugtelefonen und gingen auch nicht mehr in die richtigen Wälder, wo die Bären wohnten, sondern blieben in ihren Spielzeugwäldern. Und wenn einer der Bären dann doch unerwartet Lust auf Menschenkontakt hatte, konnte er sich einfach einen Spielzeugmenschen holen und mit ihm üben.
Als ich Liwanu die 10 Dollar hinhielt und ihn bat, nun noch seine Geschichte zu erzählen, schüttelte er den Kopf, lachte und ging ohne das Geld davon.
Michael Stauffer
Der Autor ist 1972 in Winterthur geboren und in Frauenfeld aufgewachsen. Er lebt und arbeitet in Biel und ganz Europa. Nebst dem Schreiben von Romanen, Hörspielen, Theaterstücken sowie Lyrik, singt und improvisiert er. Michael Stauffer lehrt am Schweizerischen Literaturinstitut der Hochschule der Künste Bern. Zuletzt erschienen: «Jeden Tag das Universum begrüssen» im Verlag Voland & Quist.
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