Michael Ondaatje - Ein Leben in Cinemascope
Eine turbulente Kindheitsgeschichte, die sich zum satten Entwicklungsroman weitet: Mit «Katzentisch» brilliert Michael Ondaatje einmal mehr als packender Erzähler.
Inhalt
Kulturtipp 17/2012
Frank von Niederhäusern
Im Spätsommer 1954 wird ein 11-jähriger Knabe auf dem Seeweg von Ceylon nach England geschickt, wo ihn seine Mutter und eine höhere Schule erwarten. Was dem jungen Michael Ondaatje tatsächlich geschehen ist, erzählt er nun in seinem Roman «Katzentisch». Ausser den historischen und geografischen Koordinaten hat das Buch aber keinerlei autobiografischen Hintergrund, betont der heute 69-jährige, in Kanada lebende Autor. «Das Abenteuer des Schreiben...
Im Spätsommer 1954 wird ein 11-jähriger Knabe auf dem Seeweg von Ceylon nach England geschickt, wo ihn seine Mutter und eine höhere Schule erwarten. Was dem jungen Michael Ondaatje tatsächlich geschehen ist, erzählt er nun in seinem Roman «Katzentisch». Ausser den historischen und geografischen Koordinaten hat das Buch aber keinerlei autobiografischen Hintergrund, betont der heute 69-jährige, in Kanada lebende Autor. «Das Abenteuer des Schreibens besteht darin, sich von sich selbst überraschen zu lassen», sagte er kürzlich in einem NZZ-Interview. Will heissen: Die farbenfroh und detailreich erzählte Geschichte des kleinen Michael (!) ist frei erfunden.
Turbulente Reise
Nun ja: Es würde auch verwundern, wenn Ondaatje mit all jenen Gestalten, von denen das Buch geradezu vibriert, auf demselben Schiff gereist wäre und sich fast 60 Jahren später noch derart exakt an sie erinnern könnte. Nur schon mit Cassius und Ramadhin liesse sich spielend ein turbulenter Reisebericht gestalten. Mit diesen etwa gleichaltrigen Freunden erlebt Michael auf dem Dampfer «Oronsay» zahlreiche Abenteuer und lässt keinen Streich aus. Die drei Buben sitzen am «Katzentisch», dem schlechtesten Platz im Speisesaal des Schiffes. Zusammen mit weiteren heiteren Gestalten wie dem sehr coolen Bordmusiker Mr. Mazappa, der den Buben schlüpfrige Witze erzählt, der nicht minder speziellen und geheimnisvollen Taubenhüterin Miss Lasqueti, einem stummen Schneider oder einem Botaniker, der im Schiffsbauch einen ganzen exotischen Garten nach England transportiert und dort zuweilen nächtliche Diners abhält.
Hinzu kommen weitere eindrucksvolle Figuren wie Michaels 17-jährige Cousine Emily, die den mitreisenden Mannsbildern reihenweise den Kopf verdreht, die gestrenge «Tante» Flavia, die Michael von der 1. Klasse aus im Auge behalten soll, ein Millionär samt Entourage und ein nur nächtlich zu sehender Gefangener. Dieses vielgestaltig auftretende und agierende Personal erinnert an die Romane von John Irving, Ambiente und Handlung dagegen an die mondäne Exotik der Krimis von Agatha Christie.
Haarsträubendes
Tatsächlich geschehen während der dreiwöchigen Seereise, die dem Roman das Hauptgerüst gibt, manch haarsträubende Dinge – nebst viel Lustigem, Skurrilem, auch Herzergreifendem. Doch «Katzentisch» ist mehr als jene schablonenhafte Reisegeschichte, die das comicartige Buchcover suggeriert. Michaels Reise von Ceylon nach England führt ihn nicht nur geografisch in andere Welten und Sphären.
Der anfänglich schüchterne Knabe mausert sich zum draufgängerischen Schlingel, zum jungen Erwachsenen zudem, der einen Teil seiner kindlichen Unschuld verliert. Nicht aber sein Staunen und die bange Ungewissheit über seine Zukunft in der neuen alten Welt. «Als wir auf das Meer hinausblickten, das so leer wirkte, stellten wir uns komplexe Spannungsbögen und Geschichten für unser Leben vor», sagt Ich-Erzähler Michael.
Die Schiffsreise symbolisiert den frühpubertären «rite de passage» aus der unbeschwerten Kindheit ins denkende, handelnde, auch zweifelnde Ich. Miss Lasqueti rät den drei Knaben: «Ihr müsst Augen und Ohren offenhalten. Hier könnt ihr etwas lernen.» Und Mr. Mazappa orakelt: «Du darfst dich nie für unwichtig im grossen Zusammenhang der Dinge halten.»
Was nach banalen Stereotypen à la Coelho oder Gibran klingt, montiert Ondaatje zu einem bestechenden, weil weit über die Schiffsreise ausgedehnten Entwicklungsroman. Der mehrfach preisgekrönte Autor macht den «Katzentisch» zu einem stellenweise wohl turbulenten, insgesamt aber bezaubernden, beglückenden – ja: bereichernden Buch. Wie «Anils Geist» oder «Der englische Patient» liest sich auch Ondaatjes neuer Roman als monumentale Breitbandliteratur. Die Abenteuer des kleinen Michael und deren Auswirkungen auf sein ganzes späteres Leben bleiben in Erinnerung – in satten Farben und Cinemascope.
[Buch]
Michael Ondaatje
«Katzentisch»
Aus dem Englischen von Melanie Walz
295 Seiten
(Hanser 2012).
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