Der Psychiater Robert Lenobel ist am Verzweifeln – wegen seiner Patienten und mehr noch wegen sich selbst. «Wenn sie ein Jahr oder kürzer in Behandlung sind, sehen sie, dass sie das Ich nicht finden können.» Doch nun ist ausgerechnet der verheiratete Psychoanalytiker seinerseits auf der Suche nach diesem «Ich». Anlass dazu bietet die Trennung von seiner Geliebten Bess, deren er überdrüssig geworden ist. Pech ist allerdings, dass sich die Frau – obgleich mit einem anderen verheiratet – nicht abwimmeln lässt. Da bietet sich dem Psychoanalytiker nur die Flucht an. Weg aus Wien – Adieu, Europa –, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Lenobels Schwester Jetti soll nun seine verzweifelte Frau Hanna trösten.
Wohlstandsbürger der heutigen Zeit
Das ist eines der Fluchtdramen, die sich im neuen Buch «Bruder und Schwester Lenobel» des österreichischen Schriftstellers Michael Köhlmeier abspielen. Vordergründig ist dieser Roman ein Doppelporträt der jüdischen Geschwister Lenobel mit ihren Freuden und Sorgen. Darunter zeichnet er jedoch raffinierte Fluchtwege, auf denen sich die beiden immer wieder von Neuem verirren.
Robert und Jetti Lenobel sind zwei arrivierte Wohlstandsbürger der heutigen Zeit. Er führt in Wien eine psychiatrische Praxis mit zahlungskräftigen Patienten. Jetti mischt auf dem lukrativen Markt der Kulturvermittlung in Dublin mit. Sie ist Single, unterhält aber parallel mehrere Liebschaften. Robert ist mit Hanna verheiratet, der Geschäftsführerin einer jüdischen Buchhandlung. Ebendiese Hanna ist es, die Jetti einen Hilferuf sendet: Robert ist verschwunden.
Die Familiengeschichte als Beziehungskiller
Autor Köhlmeier rollt nach und nach das unterschwellige Drama des Geschwisterpaars auf. Die Grosseltern sind Opfer der Shoah, die Mutter leidet unter den Traumata eines Flüchtlingskindes, das nach England verfrachtet wurde. Diese Familiengeschichte prägte Robert und Jetti dermassen stark, dass sie beziehungsunfähig sind. Er lebt an seiner Hanna vorbei, Jetti wagt keine feste Bindung. Im Gegenteil – sie scheint Trennungen geradezu zu lieben.
Im Fall eines irischen Bettgenossen sind die Konsequenzen unangenehm: Er malträtiert mit einem Pickel ihren Aston Martin zu Schrott und lauert ihr
Tag und Nacht bedrohlich auf. Als Lösung bietet sich wiederum die Flucht an – von Dublin nach Wien.
Köhlmeier versteht es, mit Leichtigkeit, Witz und Ironie die Beziehungskisten seiner Protagonisten aufzuschnüren. Da bekommt alles sein Fett ab. Vorab allerdings die Psychoanalyse, deren Methoden den Autor nicht wirklich zu überzeugen vermögen.
kulturtipp: Michael Köhlmeier, unter der Ermordung der Grosseltern leiden die Enkel und sogar die Urenkel. Warum zieht sich dieses Leiden über mehrere Generationen hinweg?
Michael Köhlmeier: Ich finde es merkwürdig, dass in meinem Roman die Enkel, Robert und Jetti Lenobel, eben nicht unter der Ermordung ihrer Grosseltern leiden. Aber diese beiden sind wahrscheinlich eine Ausnahme. Wenn Sie wüssten, dass Ihre Grosseltern aus einem rassistischen Hass heraus ermordet worden sind und Sie selbst aus denselben Gründen im Visier politisch Radikaler sind – würde Sie dieser Gedanke nicht leidend machen?
Ist für Sie die europäische Nachkriegsgeschichte vor allem eine Bewältigung des Verdrängten?
Zuerst umgekehrt: eine Verdrängung des zu Bewältigenden. Die folgende Generation, der ich angehöre, hat dann versucht, das Verdrängte zu bewältigen. Aber weil weder das eine noch das andere wirklich funktionieren kann, waren beide Wege oft Irrwege. Manchmal stand man vor einer Mauer, manchmal vor einem Abgrund. Die mit den Brettern vor der Stirn sind entweder dagegen angerannt oder abgestürzt.
Die Flucht ist der rote Faden in Ihrem Buch. Warum ist dies ein typisch österreichisches Phänomen dieser Generation?
Weil Österreich so klein ist. Und eng. Die Schweiz ist noch kleiner, aber nicht so eng. Ich bin ganz in der Nähe der Schweiz aufgewachsen, in Hohenems Vorarlberg. Wenn ich mit dem Fahrrad über die Grenze fuhr, um für Mutter Zucker einzukaufen, hatte ich jedes Mal ein weites Gefühl in der Brust – das Tor zur Welt. Auch dem bünzligsten Schweizer glaubte ich anzusehen, dass er nicht durch zwei Kriege klein gehauen worden ist. Und dann Zürich! James Joyce, Dada, Georg Büchner, Lenin, Thomas Mann. Wien hätte leicht mithalten können, aber Wien war weit. Ist es heute zum Glück nicht mehr.
Jedes Volk fühlt sich mehr oder weniger von historischen Traumata belastet. Auch die Iren. Warum sind die Bewältigungsstrategien so unterschiedlich?
Erst recht die Iren! Ich war in den 80er-Jahren länger in Irland und wurde stets begeistert aufgenommen – weil ich Österreicher war. So schlimm kann Hitler doch nicht gewesen sein, hiess es, immerhin hat er England bombardiert. Ein Freund sagte mir, bis zur Aufzehrung des Äons wird kein Friede sein zwischen Irland und England. Die politische Lage war ein Dilemma, vergleichbar mit dem Dilemma zwischen Israel und Palästina. Aus der Mathematik wissen wir, bei Dilemmata müssen wir die Ebene wechseln, in eine höhere Ebene aufsteigen. Im Fall Irland/England war die höhere Ebene die Europäische Union.
Sie schreiben ja mit köstlicher Ironie über die Psychoanalyse. Gibt es sie überhaupt, die individuellen Strategien zur Bewältigung kollektiver Traumata?
Ich fürchte, nein. Aber eigentlich brauche ich mich nicht zu fürchten. Was wären kollektive Strategien? Im alten Ägypten oder im antiken Griechenland sind kollektive Traumata in Ritualen bewältigt worden. Im Ritual werden Situationen symbolisiert und wiederholt. Daraus wird irgendwann ein Fest. Ich glaube, wenn das Fest immer noch gefeiert wird, obwohl sich niemand mehr an das Trauma erinnert, dann ist es bewältigt worden. Europa müsste Feste feiern. Das Fest ist für das Kollektiv, was die Couch des Psychoanalytikers für einen einzelnen Menschen ist.
Buch
Michael Köhlmeier
Bruder und Schwester Lenobel
544 Seiten
(Hanser 2018)