Während der Recherchen zu meinem letzten Roman stiess ich auf einen Herrn namens Huniziker. Anne Chapman erwähnt ihn irgendwo in ihrem Buch «European Encounters with the Yamana People of Cape Horn Before and After Darwin». Sie hält sich bedeckt und nennt nur seinen Nachnamen, mit folgen-der Bemerkung in Klammern: «ein weiterer Missionar».
Ein Blick in Chapmans Quellen legt den Schluss nahe, dass die Autorin den Namen falsch abgetippt hat und es sich bei diesem Herrn um Johann Hunziker aus Oberkulm im Kanton Aargau handelt. Hunziker liess sich als junger Mann von einer pietistischen Pilgermission in Basel ausbilden und stieg am 9. März 1860 in Southampton auf ein Schiff, das ihn nach Montevideo in Uruguay brachte. Am 17. Juni 1860 kam er an. Ein Jahr später erreichte er mit einem weiteren Pilger namens Schmid Patagonien. Sie wurden sehr freundlich empfangen und begannen, mit den Patagoniern durch das Land zu ziehen. Ihre missionarischen Erfolge waren überschaubar, um nicht zu sagen: eine Katastrophe. Während eines langen Ritts durch die Steppe wurde Schmid zudem wahnsinnig. Der Hunger sei schuld gewesen. Für Hunziker war die Entbehrung weniger problematisch, da er einige Polster besass. Kurz darauf verliess Hunziker die Pilgermission. Er heiratete und wurde Kuhknecht. Hinter seinem Rücken wurde getuschelt, sogar als Knecht sei er ganz und gar unbrauchbar. Er zog viel umher. Eine Ehefrau starb. Mehr Kinder kamen zur Welt. Gerüchten zufolge steht sein Grabstein im US-Bundesstaat Minnesota.
Hier könnte diese Geschichte enden, wäre nicht am 17. Juni 1860 ein Mann namens Johann Huniziker (diesmal tatsächlich mit zwei i) in Montevideo auf ein Schiff in Richtung Süden gestiegen. Er reiste die kurze Strecke nach Buenos Aires und tauchte in der Stadt unter. Huniziker liebte die Abwechslung. Vielleicht fügte er deshalb bei der Ankunft in Südamerika seinem Nachnamen das zweite i hinzu, und vielleicht reiste er deshalb so viel. Im Alter von zwölf Jahren war er von daheim fortgelaufen. Sein Vater, ein unermesslich reicher Seidenindustrieller, hatte dem Sohn durch ganz Europa Geld hinterhergeschickt. In Paris versuchte sich der Jungspund als Literat. Seine erste Kurzgeschichte, die er einem Verleger mit den Worten «Hier ist das Meisterwerk» auf den Tisch knallte, wurde in einem Aschenbecher verbrannt. Trotzdem veröffentlichte er mit 16 seinen ersten Roman. Er hatte durchaus seine Bewunderer. «Die Ratten» nahm Stevensons «Schatzinsel» vorweg, bloss spielte die Geschichte nicht auf einer Insel, sondern mitten in Paris. Es war ein schwatzhaftes Werk voller jugendlicher Exaltiertheit.
Die Geschichte beginnt in einem Stadthaus in Montmartre: Beim Spielen im Keller entdeckt ein Junge eine Schatzkarte, die ein Geflecht von unterirdischen Tunneln offenbart. Im Folgenden lernen wir einen einbeinigen Obdachlosen, einen rachsüchtigen Geist und einen gruseligen Apfelweintrinker kennen. Diese seltsame Truppe macht sich auf den Weg durch die Kanalisation. Der Spannungsbogen erreicht seinen Höhepunkt, als der Junge bemerkt, dass der Apfelweintrinker sich die ganze Zeit als Freund ausgegeben hatte, um im richtigen Moment die Karte zu stehlen. Am Schluss findet der Junge den Schatz dann doch, und zwar mit Hilfe des Geists. Sie schaffen es zurück an die Oberfläche und der Geist «löste sich auf, wie die Rauchschwade einer Zigarre». Das Buch war ein Flop.
Zehn Jahre später tauchte Huniziker abermals in Buenos Aires auf. Er war jetzt Landschaftsmaler und hatte offenbar einige Zeit im Süden des Landes verbracht. Seine Bilder erregten Aufmerksamkeit. Seine Seen waren nicht blau, sondern gelb, und sie waren nicht rund, sondern eckig. Seine Bäume waren nicht grün, sondern lila und ebenfalls eckig. Seine Berge hatten alle möglichen Farben, bloss nicht grau, und sie waren voller bizarrer Zacken. Ein berühmter Kritiker des «Buenos Aires Herald» soll beim Anblick eines der Bilder einen Schwächeanfall erlitten haben. Das war natürlich lange vor den Surrealisten, und die gängige Meinung war, auf diese Weise die Realität zu verfälschen, sei in der Malerei nicht erlaubt. Man hielt Teekränzchen ab, um diesen kunsthistorischen Unfall zu erörtern.
Ein einziges Mal liess sich Huniziker interviewen. Zum Gespräch erschien er aufgetakelt wie ein Pfau: mit Federhut, Plüschumhang und dem regenbogenfarbenen Gurt eines Gauchos. Unter der exzentrischen Hülle verbarg sich ein schmales Bürschchen mit Piepsstimme. Er sagte, er sehe die Welt durch die Scherben seines Lebens und seine Bilder seien nun mal ein Abbild dessen, was er erblicke, wenn er die Augen öffne. Für ihn spiegle genau dies die Wirklichkeit. Abermals fand er Bewunderer. Mit den Taschen voll argentinischer Pesos verschwand er aus der Stadt. Mal hiess es, er vollführe jetzt Zaubertricks für Touristen bei den Iguazú-Wasserfällen. Ein andermal will ihn jemand als Bananenverkäufer an einem Strand ausserhalb Caracas gesehen haben. Ein mexikanischer Kunsthändler schwor bei der heiligen Muttergottes, er habe ihm gegenübergesessen und sie hätten Verhandlungen über neue Werke geführt.
Seltsam an diesen zwei Herren ist, dass der eine immer genau dann auftauchte, wenn der andere verschwand. Noch seltsamer ist, dass sie denselben Weg zurücklegten, aber abwechselnd wie Staffelläufer. Und am seltsamsten ist wohl, dass die beiden dennoch unmöglich dieselbe Person gewesen sein können. Sie waren wie zwei Seiten einer Medaille. Der eine rund, träge und mit einem Kopf wie ein Ei. Der andere drahtig, flink und mysteriös wie eine Nebelkrähe. Der eine grobschlächtig mit Peitsche. Der andere ein Homme de Lettres mit Pinsel. Wir können uns nur wundern. Zwei Schatten, die ineinanderglitten und schliesslich verblassten.
Michael Hugentobler
Michael Hugentobler wurde 1975 in Zürich geboren. Nach dem Abschluss der Schule in den USA und in der Schweiz arbeitete er zunächst als Postbote und ging dann auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Er durchquerte den Amazonas, die Taklamakan-Wüste und Bangkok und verdiente Geld als Plakatkleber, Bäcker und Barmann. Heute ist er Schriftsteller und freischaffender Reporter für verschiedene Zeitungen und Magazine. Kürzlich ist sein zweiter Roman «Feuerland» (dtv) erschienen. Michael Hugentobler lebt mit seiner Familie in Aarau.