Max Seybold war – gemäss offiziellen Angaben – ein untergeordneter Hilfskoch im Buckingham Palace, ein gedrungener junger Mann, der kaum je sprach und mit seinem Stoizismus im Gewusel der Küche ein eher seltsames Bild abgab. Keiner schälte mit mehr Sorgfalt die Rüben, keiner entkernte mit solcher Präzision die Tomaten, und keiner konnte den Holzlöffel derart sanft und gleichmütig während Stunden durch die flüssige Schokolade gleiten lassen, sodass sich beim Abkühlen keine weissen Flecken bildeten.
Er besass die Gabe, auf anmutigste Weise Teeblätter zu zerbröseln und sie stets in dem flüchtigen Moment der perfekten Aromenentfaltung aus dem heissen Wasser zu filtern, sodass die Queen ihren Earl Grey bald nur noch bei Seybold bestellte, ihm ein mütterliches Lächeln zuwarf und seufzte:
«Das Paradies ist eine Tasse Tee!»
Als kleiner Junge hatte er die Wintermonate in den Ausläufern des Berner Jura damit zugebracht, seinen Grossvater zu beobachten, der Zahnräder für Uhrwerke geschliffen hatte, endlose Abende lang, während draussen Schnee fiel, bis die emotionale Selbstbeherrschung eines Zenmönchs in ihn eingedrungen war. Eher durch Zufall hatte er London besucht (ein reicher Cousin studierte ein Semester Horologie an der City University) und an einer Studentenparty eine flüchtige Bekanntschaft geschlossen – trotz der Tatsache, dass er den Abend damit verbracht hatte, aus dem Fenster in den Regen zu schauen. Obwohl oder gerade weil er rein gar keine Ambitionen hatte, in der Stadt aller Städte zu bleiben, wurde ihm dank dieser Bekanntschaft der Job als Küchenhilfe angeboten. Ein Ire, der diese Arbeit zuvor erledigt hatte, war mehr und mehr durch einen nervösen Tick aufgefallen, seine haspelnden Hände hatten stets die Flaschen des Kochweins über Tischkanten geschubst und am Boden zerbersten lassen, wodurch die Anwesenheit dieses Iren in der Küche unhaltbar geworden war.
Es würde den Rahmen dieser Geschichte sprengen, um im Detail auf die weltpolitischen Ereignisse einzugehen, die dazu führten, dass die Queen ihr Bestreben äusserte, die britische Küche international salonfähig zu machen, und ausgerechnet im Ausländer Seybold ihren Heiland zu erkennen glaubte. Und es würde zu weit führen, die verworrenen Intrigen aufzudröseln, die nach dieser Entscheidung derart heftig durch die königliche Küche schwappten, dass die gusseisernen Bratpfannen an den Wänden zu klappern schienen. Ohnehin bekam Seybold kaum etwas davon mit, allzu sehr war er damit beschäftigt, seine eigens hergestellte Gewürzmischung aus Rosenholzsplittern, Butterblumenblättern und gewürfelter und getrockneter Blutorangenrinde ins Roastbeef zu massieren.
Obwohl er den Anschein machte, als befände er sich in einer Welt jenseits jeglicher Zielstrebigkeit, legte er einen erstaunlichen kulinarischen Erfindungsreichtum an den Tag. Er erschuf unter anderem die auf Birkenrinde gedünstete Zucchini; oder ein auf neunfacher Schonröstung basierendes Sesambrötchen. Die Genialität dieser Rezepte würde aber erst Jahrzehnte später erkannt werden.
Wie wir alle wissen, war Max Seybold ein allzu feinfühliger und sensibler Mensch – ein Künstler natürlich – als dass er sich in der rauen Welt hätte durchsetzen können. Seine Kreationen zeichneten sich dadurch aus, dass süsse und saure Geschmacksnuancen auf der Zunge erahnt werden mussten. Gewisse Gerichte bestanden aus nichts als ihrem Duft. Heikel daran war, dass nur die Nase Seybolds die Gabe hatte, diesen Duft wahrzunehmen – was etwa beim Salat der Fall war, der aus einem einzigen ungewürzten Blatt Löwenzahn bestand und den ehrenwerten Lord Beckenham dazu veranlasste auszurufen:
«Ich bin doch kein Kaninchen!»
Sein Scheitern kostete Seybold die Stelle, er reiste zurück in die Heimat, bezog eine Einzimmerwohnung in Bern an der Gerechtigkeitsgasse und begann, sich mit dem Dreiminuten-Ei zu beschäftigen. Seine Erkenntnisse veröffentlichte er unter dem Titel «Meditation mit Ei», was ein Meisterwerk über die Kunst der Beobachtung war, leider aber nie über die erste Auflage hinauskam. Als Erster entdeckte Seybold das Phänomen des Hüpfens – dass das Ei im stetig erhitzenden Wasser kurz vor dem Siedepunkt zu hüpfen beginnt, und dass die Kochdauer danach exakt 200 Sekunden beträgt. Er versuchte, diese Technik unter dem Namen «Seyboldsche Methode» beim Patentamt in Bern anzumelden, was ihm allerdings verwehrt wurde – unter der Begründung, die Technik funktioniere zwar auf den 500 Höhenmetern, auf denen Bern liege, nicht aber in bergigen Gebieten. Das damit verbundene Risiko des Salmonellenbefalls sei schlicht zu hoch.
Den Rest seines Lebens verbrachte Max Seybold damit, durch die Welt zu reisen und seine «Seyboldsche Methode» jedem erdenklichen Höhenmeter des Planeten anzupassen, jedoch verhedderte er sich mit den Jahren in Millisekunden, was dazu führte, dass seine Kochanleitung auf die Grösse der Encyclopædia Britannica anschwoll.
Heute, fast 40 Jahre nach seinem Tod, erinnert im Buckingham Palace nur noch eine Gewürzmühle an diesen feinfühligsten aller kulinarischen Künstler: Ihr Mahlwerk wird dank zwei ineinander verkeilten Federn zu Zeitlupentempo verlangsamt. Das Utensil wird vom heutigen Küchenchef bisweilen auch «Die Genie-Maschine» genannt. Eingraviert in eine goldene Plakette am Schaft, mit zwei silbernen Schrauben befestigt, hebt sich von wurzligem Eibenholz der Schriftzug ab: Seybold.
Michael Hugentobler
Der Autor wurde 1975 in Zürich geboren. Nach Schulabschluss in der Schweiz und in Amerika arbeitete er zunächst als Postbote und ging dann 13 Jahre lang auf Weltreise. Heute schreibt er als freier Journalist für «Das Magazin» des «Tages-Anzeigers».
Dieses Jahr erschien sein Debütroman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» bei dtv. Michael Hugentobler lebt mit seiner Familie in Aarau.