Hurra, ich bin Debütant! Mit 51 Jahren gehöre ich wieder zum Nachwuchs. Mein Roman «Sobald wir angekommen sind» ist ein Erstling (auch wenn es eigentlich mein zweites Buch ist, aber egal, das erste war ja für Kinder, und die zählen zum Glück nur halb). Dieses Buch ist nun für Erwachsene, und ich bin somit wieder mal Anfänger. Ich hatte ganz vergessen, wie gut sich das anfühlt. Als ich als Kindergärtler mein erstes Spiegelei briet, wollte ich sofort ein Restaurant er öffnen.
Wer zu solch exquisiter Kochkunst fähig ist, dachte ich, wird sich vor Kundschaft nicht retten können. Das Ei, das ich mit etwas Mühe vom Pfannenboden kratzte, war zwar an der Unterseite verbrannt, und die krümelig feuchte Gewürzpanade, die ich löffelweise drüber gekippt hatte, schmeckte ungewöhnlich (vielleicht war die Mischung von Curry, Aromat, Zimt und Muskat nicht ideal). Es war kein makelloses Gericht. Aber wer will kleinlich sein? Ein Ei ist besser als kein Ei. Meine Mutter lobte mich. Ich war ja noch Debütant. «Mir sind e chliini Band, mir sind kä grossi Band», komponierte ich als 9-Jähriger.
Ich kannte einige Akkorde auf der Gitarre. Mein bester Freund besass eine Heimorgel mit Rhythmusautomatik. Zusammen nannten wir uns «Video», weil das Wort cool klang. Wir spielten Nachmittagskonzerte im Gemeinschaftszentrum und im Altersheim in Seebach. Wir waren überzeugt, dass uns eine grosse Karriere bevorstand. «Wir sind alte Hasen», erklärten wir mal in einem Interview bei Radio LoRa. Der Moderator lachte. Wie süss! Wir konnten uns alles erlauben.
Auch Grössenwahn. Wir waren ja Debütanten. Und so blieb es. Ein Anfang reihte sich an den nächsten. Der erste Schultag als Gymnasiast. Der erste Artikel in einer Jugendzeitung. Ich fing mit dem Lehrerseminar an, mit Journalismus, Musikproduktion, Kulturmanagement. Immer genoss ich den Bonus des Beginners. Irgendwann schrieb ich ein Drehbuch. Ich hatte keine grossen Ambitionen. Ich wollte bloss sehen, ob ich das konnte (und konnte es natürlich nicht).
Das Drehbuch landete im Papierkorb, wo es hingehörte. Dann schrieb ich ein zweites Drehbuch, das wurde zu meinem Erstaunen bald schon verfilmt. Ich wurde Drehbuchautor und fühlte mich dabei lange wie ein Hochstapler. Denn je mehr ich von der Materie zu verstehen begann, desto klarer sah ich, wie viel mir zur Meisterschaft fehlte.
Dies ist übrigens ein wichtiger Punkt, der dafür spricht, möglichst lange Anfänger zu bleiben: Man ahnt noch nicht, wie hoch der Berg vor einem ist, und wandert munter los in den dichten Nebel. Vielleicht sollte ich Regisseur werden, sagte ich mir, das hatte ich noch nie versucht. Ich drehte einen Kurzfilm. Niemand störte sich daran, dass mir die Erfahrung fehlte. Überall offene Türen. Alles schien möglich. Ein Film ist besser als kein Film. Ich gewann Debütpreise an Debütfestivals.
Dann folgte mein erster langer Spielfilm. Mein Haar wurde schon dünner. Aber noch immer galt ich als Jungfilmer, als Hoffnung von morgen. «Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu le ben», heisst es im Gedicht «Stufen» von Hermann Hesse. Es ist ein schöner Gedanke, und bestimmt ist es auch ein schönes Gedicht. Ich kann mich nicht mehr erinnern, es fertig gelesen zu haben. Das Anfangen ist mir immer leichter gefallen als das Durchhalten.
Vom Spiegelei bis zum Spielfilm. Immer beginnt es mit Spass, dann mündet es, wenn man besser werden will, in Arbeit. Üben. Scheitern. Lernen. Und akzeptieren, dass das eigene Talent nie den Ansprüchen genügt, die man mit etwas gutem Geschmack leider entwickelt. Ein Vierteljahrhundert schreibe ich jetzt schon Drehbücher. Nicht, weil ich eines Tages beschlossen habe, endlich mal etwas durchzuziehen, sondern weil man beim Erzählen von Geschichten immer wieder von vorne anfangen darf.
Jeder Film ist anders und hat seine eigenen Regeln. Jede Geschichte ist ein unbekanntes Land. Es ist ein guter Beruf für einen wie mich. Natürlich habe ich im Lauf der Jahre auch Erfahrung gesammelt. Das lässt sich nicht vermeiden. Doch die Routine hilft selten weiter. Was beim letzten Film genial schien, ist beim nächsten nutzlos. Ich dachte, ich würde nach den ersten heiteren Filmen einmal düstere Krimis drehen. Abgründige Thriller, Animationsfilme, Historiendramen mit galaktischen Budgets. Hauptsache, immer wieder etwas Neues, bis zum Ende meiner Tage. Doch so funktioniert das leider nicht.
Nach dem meine romantische Komödie «Die Standesbeamtin» recht erfolgreich im Kino gelaufen war, bekam ich eine Weile nur noch Anfragen für weitere romantische Komödien. Ich wollte Neuland entdecken. Aber kein Filmproduzent schien Lust zu haben, mir dabei zuzusehen. Bleib doch besser bei dem, was du kannst, sagte man mir. Ab einem gewissen Alter sollte man wohl damit aufhören, Anfänger sein zu wollen. Am Tiefpunkt meiner Filmkarriere, bei einem Stoffentwicklungsprogramm irgendwo in Bayern, lernte ich einmal einen glücklosen Hollywood-Autor kennen.
Er hatte vor vielen Jahren das grossartige Drehbuch für «Und täglich grüsst das Murmeltier» geschrieben. Danach ging es bergab. Der arme Mann bekam nur noch Angebote für Filme über Leute, die in einer Zeitschlaufe landen und immer wieder das Gleiche erleben. Das Gegenteil des Debüts ist die ewige Wiederholung. Das langsame Fadeout. Darauf habe ich noch keine Lust.
Also habe ich einen Roman geschrieben. Es ist mir nicht leichtgefallen. Aber es hat Spass gemacht. «Sobald wir angekommen sind» ist die Geschichte von einem Mann, der sich über fordert fühlt vom Alltag. Erst als er aufbricht ins Fremde, bekommt er wieder Boden unter die Füsse. Auf der Flucht fühlt er sich, als würde er endlich ankommen. Bald findet die Buchpremiere statt. Ich hoffe, dass es mir niemand übel nimmt, falls ich mich beim Vorlesen verhasple. Ich bin ja Debütant.
Zur Person
Micha Lewinsky ist 1972 in Kassel zur Welt gekommen. Er hat die Kinderlieder-CDs «Ohrewürm» produziert und das Migros-Kulturbüro aufgebaut. Zu seinen Regiearbeiten zählen Filme wie «Der Freund», «Die Standesbeamtin», «Nichts passiert» und «Moskau einfach!». 2022 ist bei Diogenes sein Kinderbuch «Holly im Himmel» erschienen. Sein Roman «Sobald wir angekommen sind» feiert Buchpremiere am Montag, 9. September, 20.00 Uhr im Kaufleuten in Zürich.