Im Herbst wird das Licht schräger, es hat einen neuen Zauber, die Luft ist glimmrig, die Farben sind satter, und man besteigt die Berge wehmütiger als sonst durchs Jahr hindurch. Die meisten Kühe sind bereits wieder im Tal, doch noch findet man ihre ausgetretenen Wege. Die Abende sind blauer, das Gras in einem giftigeren Grün dort, wo es noch nicht ocker ist, und die Beeren sind satt rot. Kommen Sie mit, wir gehen los, den Berg hinauf, Richtung Alp!
In den Herbstblättern flüstert der Tod
Heute ist der Himmel aus weisser Wolle,
rote Vogelbeeren leuchten zu uns herüber,
meine Haare sind Zweige für gelbe und rote Blätter.
Die Luft wird kälter, die Tage kürzer, das Nebeltuch
ist dicht, die Tannen rudern mit ihren Ästen
durch das Weiss, Tänzerinnen auf einem Bein.
Die Wiesen sind holzig, die Gräser geknickt
wie gekrümmte Finger. Sie versuchen nach den Faltern
zu greifen auf dem Weg in den Süden, wollen mit.
Wenn die ersten Schneeflocken fallen, wiegen sich
die letzten Blumen nackt im Wind, verrenken ihre Hälse
nach einer südlichen Stadt mit türkisen Kuppeln.
Und ich nähe dann mit den sehnigen Fasern
meines Herzens meinen Mund an deinen.
Damit du bei mir bleibst, auch im Winter.
Der Jäger
Seit früh klettert er schon, lange und
immer höher und höher. Ich habe Angst um ihn.
Blutend wird er Tage später zurückkehren.
Nicht das eigene Blut wird an ihm kleben,
nein, das einer Gams oder eines Steinböckchens.
Es würde mit seinen glasigen Augen,
dem langen, weichen Hals,
mit den Füssen zusammengebunden,
über dem Rücken des Jägers liegen.
Gleichmässig und rasch wird er dann hinabsteigen
über die Matten und durch die Wälder,
wie mit einer unerschöpflichen Macht verbunden,
auf diese unsere Alp nach Tagen der Unruhe.
Breitbeinig und mit Nagelschuhen,
um den Halt nicht zu verlieren,
wird er die Steine in ihren Untergrund drücken.
Treu geht er diesen seinen gefährlichen Weg,
als Charon der Berge funkelnden Auges.
Später werde ich das samtige Tier ausnehmen,
die Därme spannen zu durchsichtigen Geweben,
die Sehnen zusammenknüpfen zu langen
Fäden und Seilen, ihm nochmals Leben einweben.
Weit drüben in einem Schopf werden sie dann trocknen,
nachts die Wölfe anziehen, die jaulen,
aber nie genug nah an die Steinhäuser
auf der Alp kommen, weil sie wissen, dass
unsere Waffen weiter reichen als die ihrigen.
Sternenhaus
Manchmal sinken die Sterne
nachts auf den Kachelboden des alten Hauses.
Jemand hat vergessen sie aufzuwaschen.
Schlafend ist die Stube warm vom Holzofen,
vor ihm sind wir eingeschlafen, geborgen.
Lautlos sind wir heimgegangen zu uns.
Draussen wächst das Gras höher als unser Haus,
das Feuer ist glühig, zufrieden,
schläfrig liegt das Kind in unseren Armen.
Wir bewahren kleine Blüten auf,
greifen nach dem Schlüssel im andern,
öffnen heimlich seine Türen. Wir wohnen
Haut an Haut durch das Rotkehlchen hindurch,
das jeden Morgen in der Kühle pfeift.
Und wenn die Wolken wie Geister
vor dem Mond durchziehen, seltsamig,
dann öffnen wir alle Türen gegen die Nacht,
damit die Sterne, einer nach dem anderen,
nachts zu uns ins Haus sinken,
erschöpft vom grellen Leuchten über der Welt.
Komm herein
Komm herein, es ist Mitternacht. Oh, wüsst ich,
dass du kommst. Nicht du, der du jetzt bist, sondern du,
der du warst. Dann würde ich eine Kerze anzünden
und du würdest die Kerze sehen von weitem
in diesen Nächten ohne Licht. Und du wüsstest, dass ich
wachte über deinen Schatten, über deinen Fluch.
Draussen im letzten Abendlicht
blühen hoh der Kerbel und der Fingerhut.
Wildherz, komm, zieh mich aus zum Niemandsland,
zu den zerklüfteten Felsen und Bergen, wo der Wind
schneidend weht, wo die Luft immer dünner wird.
Nichts hält uns ausser dem Leben,
auch es rinnt, wenn wir es noch so sorgsam lieben.
Bleib eine Weile bei mir, damit ich dich spür.
Beiss mich, damit ich dir gehör.
Blau durchschattet, schlaf dann wie ein Berg
in meinen Armen und wandere nachts nicht ab.
Sonnenbrand
Die Herbsttage sind heiss und stickig,
zum Verbrennen füllen sich die Nasen
mit Staub vom Sommer, in den Feldern
zirpen die Grillen lauter denn je.
Bei den Ziegen schlaf ich am Mittag,
wenn sie das Gras ruckartig von den Hängen reissen.
Wenn ich alleine unter den Tieren bin, dann bin ich
manchmal nackt zwischen den Ziegen und Hunden fellig.
Nur die grossen, groben Holzschuhe habe ich an
und mein Bauch ist braun und heiss.
Meine Erinnerungen werden ausgelöscht,
zu einem lodernden Feuer verbrennt mich die Sonne.
Meret Gut
Meret Gut (*1989) hat Molekularbiologie in Zürich studiert. Nebst ihrer Arbeit als Gymnasiallehrerin und ihrem Einsatz für Naturschutzorganisationen schreibt sie sinnliche Naturlyrik. Bisher erschienen sind im Wolfbach- Verlag die Gedichtbände «Einen Knochen tauschen wir» und «Die Frau mit dem violetten Herzen». Meret Gut lebt in Herrliberg ZH.