Es regnet. Ich steige in das Tram und fahre durch eine Stadt. Ich werde sitzen bleiben, bis es aufgehört hat zu regnen. Ein junger Mann sitzt neben mir, hält sein Smartphone in der Hand und telefoniert mit Kopfhörern. Ich höre nicht, was er sagt, ich höre Musik. Er telefoniert und schaut dabei auf das Display. Ich schüttle den Kopf. Er sieht mich nicht.
Ich sitze ganz hinten und schaue aus dem Fenster in die Autos, die hinter dem Tram herfahren. Der Regen nimmt mir die Sicht, immer mehr Tropfen haften an der Scheibe. Sie vermehren sich, und ich sehe ihnen dabei zu. Die Häuser ziehen an mir vorbei. Sie tragen traurige Gesichter und stehen im Regen.
Der junge Mann hat aufgelegt. Ich schaue wieder zu ihm. Er öffnet ein Musikprogramm und streicht sich durch die Musikstücke. Dann wechselt er auf YouTube und schaut sich die Videos an, die er bei seinen Favoriten gespeichert hält. Wie alt ist er eigentlich, denke ich. Jung. Er könnte auch einmal nach draussen sehen, mich ansehen.
Es wird nicht hell heute. Ich schaue, durch mich hindurch, dann zurück zu mir in der Spiegelung, ich habe nur eine Ahnung von mir selbst. Wie kann ich andere ansehen, wenn ich nur eine Ahnung von mir selbst habe, was weiss ich von mir?
Ich verliere mich in den Tropfen auf der Scheibe. Unscharf wird das Draussen.
Der junge Mann schaut sich die Videos nicht zu Ende an. Er wechselt, als müsste er sich in kürzester Zeit so viele Videos wie nur möglich ansehen. Diese eingeschränkte Wahrnehmung, denke ich und berühre mit meinem Fuss seinen Fuss, um eine Reaktion zu entlocken. Nichts. Er zieht seinen Fuss nur zurück. Ich berühre sein Knie mit meiner Tasche. Keine Reaktion. Es scheint, als würde er nichts spüren. Ich muss lachen, als auf seinem Bildschirm eine Katze aufspringt, als sie etwas hört, was ich nicht hören kann. Der junge Mann zeigt noch immer keine Reaktion.
Es ist früh. Die Menschen tragen noch den Schlaf in ihren Gesichtern. Ich auch.
Ich kenne mich nicht, welche Ahnung habe ich, wie ich sein könnte. Ich erahne meine Stimme, meine Hände sind klein. Was ist eigentlich mit meinem Spiegelbild passiert? Es hat sich verzerrt in den Tropfen, irgendwie. Das linke Auge steht rechts. Wie kann ich glauben, klar sehen zu können? Ich fotografiere mich, um mich anzusehen. Auch das ist nur ein Trugbild. Ein Erstarren. Ein Moment. Ein Jetzt, dieses gibt es nicht. So sehe ich auch nicht aus. Ohne Bewegung, ein toter Moment, erfasst und gefangen im Bildschirm. Alles scheint und lügt mich an. Ich lüge mich an und versuche, dabei ehrlich zu mir selbst zu sein.
Heute vergeht die Zeit gar nicht, glaube ich. Morgen wird werden, irgendwann. Übermorgen werde ich mich an heute erinnern, wie ich die Zeit verschwendet habe.
Der junge Mann streicht sich auf Facebook durch die Welt. Eine Fotografie von einem blonden Mädchen, weiter, ein Video mit einer Katze, die Hund spielt, weiter, Strandbilder, weiter, eine Mutter, die versucht, zwei kleine Babys zu wickeln, weiter, ein Vater, der versucht, drei kleine Babys zu wickeln, weiter, eine alte Frau beim Tangotanzen auf der Strasse, weiter. Was macht er, wenn er kein Handy in der Hand hat?
Neue Leute steigen ein, neue Leute steigen aus. Ich bin immer gleich, ich sitze im Tram. Ich habe nichts zu tun und höre Musik aus Köln. Gerne würde ich die Videos zu Ende sehen, die der junge Mann wegdrückt. Ich werde wütend. Am liebsten würde ich ihn schubsen und sagen, ob er nicht langsamer machen kann. Ich werde ganz ungeduldig.
Ich suche selbst nach der Katze, die einen Hund spielt, ich will mir das Video mit Ton und zu Ende ansehen. Ich gebe ein «Katze, die Hund spielt», finde aber nichts. Dann höre ich ein Interview, eine Frau fragt einen Mann, wo seine Heimatstadt liegt, er sagt Thöringen. Und ich schalte wieder zur Musik um. Meine Mutter ruft mich an und fragt, wie es mir geht. Ich höre wieder Musik und suche die Katze.
Meine Heimat, sie ist begrenzt, aber nur in der Zeit. Ich muss mich als heimatlos bekennen, nur so wird die Begrenztheit im Raum auch aufgelöst werden.
Der junge Mann bleibt bei einer Fotoserie hängen aus Sydney, das Opernhaus, Raketen leuchten am Himmel, er vergrössert eines der Fotos, speichert es, weiter.
Wenn ich alleine bin, schreibe ich viel. Durch das Aufschreiben wird eine Geschichte wahr.
Wenn ich sie für mich behalte, geht sie vergessen in mir.
Geschichten, welche auf einer wahren Begebenheit basieren, werden besser verkauft.
Die Wahrheit interessiert.
Dieser Drang zu überleben. Zurückzubleiben, nachdem ich gegangen bin. Übrig bleiben. Etwas hinterlassen. Kinder reichen nicht aus. Ich frage mich, wann wird es aufhören zu regnen, schon lange. Ich habe mich in der Frage verlaufen. Ich ertrinke im Regen und lebe meine Zeit ab.
Der junge Mann wechselt auf Safari und schaut sich nun Fotos von Sydney an, Bild, weiter, Bild, weiter, Bild, weiter.
Eine Frau überquert die Strasse, der Schirm ist aufgespannt, der Wind verformt ihn, und sie versteckt ihr Gesicht in den Wölbungen, so dass ich sie nicht sehen kann. Ich fotografiere sie und lade es auf Facebook.
Meral Kureyshi
1983 in Prizren im ehemaligen Jugoslawien geboren, kam sie mit ihrer Familie 1992 nach Bern. Sie hat das Schweizerische Literaturinstitut in Biel besucht und in Bern das Lyrikatelier für Kinder und Jugendliche gegründet.
Ihr erster, autobiografisch geprägter Roman «Elefanten im Garten» von 2015 wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert.