Menschliche Abgründe unter der Lupe
Amouröse Verwicklungen im Theater Basel: <br />
Schauspieldirektor Elias Perrig lockt das Publikum mit einer Neuinterpretation von Arthur Schnitzlers «Das weite Land».
Inhalt
Kulturtipp 04/2012
Babina Cathomen
Arthur Schnitzler (1862–1931) haftet ein anrüchiges Image an: Süsse Mädels stöckeln durch sein Werk, der Treuebruch ist steter Bestandteil seiner Geschichten, und sein Stück «Reigen» führte 1920 zu einem der grössten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts. In seinem Wiener Fin de Siècle betrügen sich Männer und Frauen reihenweise. Das ist in Schnitzlers Tragikomödie «Das weite Land» von 1911 nicht anders: Der...
Arthur Schnitzler (1862–1931) haftet ein anrüchiges Image an: Süsse Mädels stöckeln durch sein Werk, der Treuebruch ist steter Bestandteil seiner Geschichten, und sein Stück «Reigen» führte 1920 zu einem der grössten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts. In seinem Wiener Fin de Siècle betrügen sich Männer und Frauen reihenweise. Das ist in Schnitzlers Tragikomödie «Das weite Land» von 1911 nicht anders: Der Fabrikant Friedrich Hofreiter hat eine Affäre mit Adele, der Gattin seines Bankiers. Seine eigene Ehefrau Genia ist vorerst treu und lässt den russischen Pianisten Korsakow trotz beidseitigem Interesse nicht an sich heran. Aus verschmähter Liebe bringt sich dieser um und Genia findet Trost in den Armen eines jungen Marinesoldaten.
Das Land der Seele
Derweil beginnt ihr Mann in den Bergen ein amouröses Abenteuer mit der jungen Erna. Als er von der Untreue seiner Gattin erfährt, ist er zuerst erleichtert, dass er nicht als Einziger fremdgeht, fordert den jungen Liebhaber seiner Frau aber doch zum Duell.
Regisseur Elias Perrig interessiert sich in seiner Inszenierung weniger für das Wiener Gesellschaftsbild um 1900. Ihm sind vor allem die psychologischen Vorgänge wichtig – das weite Land der Seele. Denn Arthur Schnitzler war nicht nur ein Provokateur in sexuellen Belangen. Er war auch ein Seelenkenner und wurde als literarischer Doppelgänger von Sigmund Freud bezeichnet. Minutiös hat er das kollektive Unterbewusstsein einer ganzen Gesellschaft ausgeleuchtet. «Am Stück verblüfft mich immer wieder, welch ein unglaublich modernes Paar im Zentrum steht», sagt Perrig. «Die beiden vertreten mit ihrem offenen Umgang in der Liebe und Erotik die Ideale von heute. Nicht mehr die Romantik steht im Vordergrund, sondern das Credo, dass jeder Tag aufs Neue aufregend sein soll.» Auch Arthur Schnitzler selbst hat schon während der Entstehung von «Das weite Land» in seinem Tagebuch erkannt: «Das Stück ist eins der wenigen, zu dem ich mich bedingungslos bekenne. Dieses wird bleiben – ja man könnte fast sagen: Es wird erst kommen.»
Spiegel vorhalten
Die Gegenüberstellung der beiden Jahrhunderte findet in Basel im Bühnenbild Ausdruck. Bühnenbildner Wolf Gutjahr hat massstabgetreu den Zuschauerraum des alten Basler Stadttheaters nachgebaut, das 1904 abbrannte. So stehen sich zwei Zuschauerräume aus zwei Zeiten gegenüber, in der Mitte die Bühne. Wer beobachtet wen? Wer ist Zuschauer, wer Schauspieler?
Lustvoll betreibt Perrig dieses Spiel und hält seinem Publikum den Spiegel vor: «Das Geschehen auf der Bühne hat konkret etwas mit dem Zuschauer zu tun und umgekehrt. Mit diesem Setting lässt sich manches vergrössern, was bei Schnitzler nur über die Sprache vermittelt wird.»
Dennoch vertraut Elias Perrig dem Text und setzt auf die «guten alten Theatermittel» Schauspiel und Musik. Für das Musikalische ist die schillernde Kunstfigur Georgette Dee zuständig. Der Künstler Dee, der in Deutschland als Chansonnière bekannt ist, spielt die Figur der Schauspielerin, die in Schnitzlers Stück eine zentrale Rolle spielt. Sie sorgt für den nötigen Glamour im Liebesreigen.
Bei der Textbearbeitung hat Perrig eine «Tiefenbohrung» vorgenommen. Schauspielerin Astrid Meyerfeldt, welche Genia Hofreiter spielt, beschreibt es
als «Scharfstellung des Textes»: «Wir schauen durch eine Lupe auf die Akteure.» Ungewohnte Akzente setzt Perrig etwa mit dem dritten Akt, in dem sich der untreue Ehemann Hofreiter in die Berge verzieht. «In diesem Kernstück, in dem sich alles entlädt, ist das Geschehen oft irreal, die Figuren muten traumähnlich an.» Entsprechend gestaltet er den dritten Akt als Traum und lehnt sich eng an Schnitzlers «Traumnovelle» an, in der zwischen Traum und Wirklichkeit ebenfalls ein untreues Ehepaar im Mittelpunkt steht.
Kein Happy End
«Wir gehen weg von einer konventionellen Leseart», bestätigt Schauspieler Martin Butzke, der in der Rolle von Friedrich Hofreiter zu sehen ist. Die Herausforderung sieht er vor allem im «filigranen Denkwerk», das Schnitzler schafft. Denn vieles bleibt in Schnitzlers Stück unausgesprochen in der Schwebe. «Jeder Satz muss nochmals in seiner Gegenrichtung befragt werden. Es ist ein ganz schmaler Grat zwischen leichter Konversation und Tiefsinn.» Seine Bühnen-Gattin Meyerfeldt ergänzt: «Man muss jede Sekunde die Gedanken scharf stellen, um die Zwischentöne zu erfassen.»
Auch die Beziehung der Hofreiters, die oft als kalt und entfremdet gedeutet wurde, interpretieren die Schauspieler überraschend: Sie stellen die Vertrautheit in den Vordergrund – und das Zusammengehörigkeitsgefühl, das die beiden trotz ihrer Eskapaden eint. Dennoch: Dem Paar ist auch in der Basler Interpretation kein gutes Ende beschieden. «Es ist die Entwicklung von einem funktionierenden Ehemodell zu einem zerbrechenden Modell», sagt Butzke. Das Paar hat zu hoch gepokert – am Schluss bleibt wie im Original ein Scherbenhaufen.