Am Anfang stand die Skepsis. Lassen sich die leisen Zwischentöne von Peter Bichsels Texten auf die Bühne übertragen? Der Autor selbst hatte seine Zweifel: Schauspieler würden seinen Texten eine übertriebene Dramatik verleihen, «wo es doch nur darum gehe, etwas zu sagen», meinte er am Anfang. Und sie würden dort betonen, wo es nichts zu betonen gibt. Die in Zürich aufgewachsene Regisseurin Deborah Epstein tat sich zu Beginn mit der Umsetzung ebenfalls schwer: «Mir war klar, dass sich Bichsels Texte nicht eignen, in dramatisierter Form auf die Bühne gebracht zu werden. Wir mussten einen Weg finden, wie sich die eigene Atmosphäre, die sich beim Lesen seiner Texte einstellt, übertragen lässt.»
Beim Probeneinblick zeigt sich bereits, wie der melancholische Zauber mit einfachen Mitteln auf der Bühne wirkt. Vor einem Bahnwagen erzählen die fünf Schauspieler etwa Bichsels Geschichte «Der Mann mit dem Gedächtnis». Sie handelt von einem typischen Bichsel-Helden, einem Sonderling, der alle Fahrpläne auswendig kennt. Als er erfährt, dass diese Infos auch im Auskunftsbüro zu haben sind, ist der Reiz der Einzigartigkeit verflogen, und er spezialisiert sich auf das Zählen von Treppenstufen.
Immer wieder Stille
Die Inszenierung nimmt sich viel Zeit für die Erzählungen Bichsels, der in Solothurn sein «Lebens- und Schreibbiotop» hat. Oft anzutreffen ist er am Stammtisch im Restaurant Kreuz, das gleich neben dem Theater liegt und auch Eingang in die Inszenierung findet.
Atmosphäre entsteht etwa durch Geräusche aus der Beiz. Textauszüge, welche die Schauspieler vortragen, gehen über in Klaviermusik, das Schnaufen des Akkordeons mischt sich mit der Sprache – und dazwischen immer wieder Stille. «Wir möchten dem Publikum viel Raum lassen für die Imagination und Geschichten, die sich assoziativ entwickeln.» Dazu passt auch der Stücktitel «Mit wem soll ich jetzt schweigen?», ein Zitat aus dem Nachruf auf den SP-Bundesrat Willi Ritschard. Nach dessen Tod 1983 erinnerte sich Bichsel schreibend an seinen Freund, dem er von 1974 bis 1981 als persönlicher Berater zur Seite stand: «Ich werde dich nicht als populären und wortreichen Politiker im Gedächtnis behalten, sondern als einen grossen Schweiger. Weisst du, wie oft wir zusammen geschwiegen haben auf dem Berg? Mit wem soll ich jetzt schweigen?»
Griff in Text-Fundus
Regisseurin Epstein hat sich nach eigener Vorliebe aus dem reichhaltigen Text-Fundus bedient: Aus Bichsels Kurzgeschichten, etwa «Zur Stadt Paris», aus seinen Kolumnen und aus dem Roman «Die Jahreszeiten». Auf der Bühne wird Bichsels Vielfalt bunt gemischt. «Die Texte folgen weder einer Chronologie noch einem roten Faden», sagt Epstein. Dafür sorgten die Wiederholung von Motiven und einzelnen Sätzen sowie die Musik für ein einheitliches Gefüge. Schumanns Stück «Von fremden Ländern und Menschen» aus den «Kinderszenen» ist eines der Leitmotive, das sich durch den Abend zieht. Epstein hat nur Komponisten ausgewählt, die in Peter Bichsels Werk erwähnt werden. Während der Proben hat sich in spontanen Jam-Sessions mit den fünf Schauspielern herauskristallisiert, welche Stücke sich für die Bühne eignen. Dabei hätten sie sich auf Klassik und Tango festgelegt, präzisiert Epstein.
Zartes Bichsel-Gewebe
Platz blieb auch für spontane Aktionen, etwa als Schauspieler und Musiker Matthias Schoch bei den Proben plötzlich mit einem Kontrabass auftauchte. Inzwischen singen und musizieren die Schauspieler in der eigens gegründeten Bichsel-Band Annemarie teilweise mit Instrumenten, die sie vorher noch nie in der Hand hatten. Gekleidet sind sie alle fünf in typischer Bichsel-Manier mit Lederweste, runder Brille, «Tschäppi» und Uhrenkette. Sie bewegen sich stets auf einer Gratwanderung, wo es die Balance zu halten gilt: Weder mit den Kostümen noch dem Bühnenbild oder einem zu offensiven Spiel soll Bichsels Geschichten etwas Zusätzliches aufgedrückt werden, wie Regisseurin Epstein betont. «Wir möchten ein zartes Bichsel-Gewebe entstehen lassen und setzen dafür auf Einfachheit, reduziertes Spiel und den Rhythmus der Sprache.»
«Es wird mir schnell zu pathetisch»
Peter Bichsel ist kein Mann der grossen Töne, seine Texte sind leise und melancholisch, überflüssige Worte gibt es bei ihm nicht. Zum Theater-Projekt «Mit wem soll ich jetzt schweigen?» sagt er auf die Frage, welchen Eindruck er von seinem Probenbesuch hatte, schlicht: «Es hat mir sehr gefallen.» Natürlich habe er am Anfang Bedenken gehabt, räumt er nach kurzem Nachdenken ein. «Meistens habe ich Mühe, wenn Schauspieler meine Texte vortragen. Es wird mir schnell zu pathetisch: Texte haben eine Melodie und einen Rhythmus – Schauspieler haben die Tendenz, diese zu zerstören.» Beim Probeneinblick war er darum positiv überrascht über den feinfühligen Umgang mit seinen Texten. Auch die Musik hat es ihm angetan: «Einfach und wunderbar.»
Der 77-jährige Autor ist in Olten aufgewachsen und lebt heute in Bellach bei Solothurn. Zuerst arbeitete er als Primarlehrer, bis ihm 1964 mit dem Erzählband «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» der literarische Durchbruch gelang. Seither hat er sich vor allem mit seinen Kurzgeschichten und Kolumnen, in denen er sich oft auch politisch äusserte, einen Namen gemacht. Bichsel hat dieses Jahr den Grossen Schillerpreis für sein Lebenswerk erhalten.