Ein sonniges Plätzchen am Rhein in Basel: Doch am Boden liegen in weisse Leintücher eingewickelte Menschen, als wären sie Leichen. Das gehört zur Performance «Just One Minute!» der Theatermacherin Beatrice Fleischlin. Pure Provokation oder ein wichtiger Beitrag zur Flüchtlingsdebatte? Die Meinungen gehen auseinander, es kommt zu heftigen Diskussionen unter den Passanten. Einige reagieren entrüstet, andere lesen still die Info-Tafel, auf der zu einer Schweigeminute aufgerufen wird – für die, «welche auf dem Weg in eine glücklichere Zukunft ihr Leben verloren haben». Mit ihrer Aktion will Fleischlin die Menschen aufrütteln, für die Not der Flüchtlinge sensibilisieren. Die Performance ist seit dem Frühjahr in Luzern, Basel, Zürich und Bern zu sehen. Im neuen Jahr sind in Luzern weitere Aktionen geplant.
Die Menschen, die unter widrigsten Umständen aus dem Nahen Osten und Afrika nach Europa fliehen, sorgen für hitzige Debatten, bei denen jeder eine andere Lösung zu haben glaubt. Das Theater liefert dazu seinen Beitrag – im Sinn einer jahrhundertealten Tradition. Der Krieg war bereits in der antiken Tragödie der Griechen ein wiederkehrendes Motiv. Die Bühne nimmt sich seit jeher aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen an: In jüngster Zeit gehören die Überalterung der Gesellschaft dazu, inklusive Demenz, die Bankenkrise, die Gender-Thematik oder Umwelt-Themen wie die Atomenergie.
Freie Szene reagiert
Die freie Szene kann auf aktuelle Themen am schnellsten reagieren: Etwa Daniel Wetzel von Rimini Protokoll, der zusammen mit jungen Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak das interaktive Hörstück «Evros Walk Water» entwickelte und dem Publikum den Alltag der Geflüchteten näher bringt. Etwas verzögert reagieren die Theaterhäuser, die das Saisonprogramm lange im Voraus planen. Inszenierungen zum Thema finden sich meist erst im Frühjahr. So werden sich etwa das Schauspielhaus Zürich und andere Zürcher Theater im Mai mit Elfriede Jelineks Flüchtlingsdrama «Die Schutzbefohlenen» auseinandersetzen.
Ungeahnte Aktualität
Das Konzert Theater Bern feierte bereits im Dezember Premiere mit «Die Töchter des Danaos». Obwohl das Stück des griechischen Dramatikers Aischylos vor 2500 Jahren entstanden ist, liefert es ungeahnte Aktualität. Es handelt nebst dem Kampf von 15 jungen Frauen um ein selbstbestimmtes Leben vom Schicksal Flüchtender, die in der Fremde um Schutz vor Gewalt bitten. Danaos Töchter wollen der Zwangsheirat mit ihren Cousins aus Ägypten entfliehen und bitten in Griechenland um Asyl. Der britische Regisseur Ramin Gray wird die Aktualität in seiner musikalisch-tänzerischen Inszenierung herausarbeiten.
Die Theaterhäuser machen auch mit kurzfristigen Aktionen von sich reden. Etwa das Schauspielhaus Zürich, das seit Mitte Dezember vor jeder Aufführung eine selbst recherchierte Geschichte eines Flüchtlings in Zürich durch einen Schauspieler vortragen lässt. «Wie die Zukunft Europas zu gestalten ist (…), soll Aufgabe der Politik sein. Aufgabe und Privileg von Theater ist es, Menschen zu zeigen», heisst es jeweils in der Eröffnung.
Beitrag leisten
Zahlreiche Theater laden Flüchtlinge in Vorstellungen ein oder treten in Workshops und anderen Aktionen mit ihnen in Kontakt. So etwa das Theater Biel Solothurn, das Flüchtlingsfamilien aus der Region die Möglichkeit bietet, sich das Kindertheater «Zick Zack Puff», das ohne Worte auskommt, kostenlos anzusehen. Andere Theater organisieren Sammelaktionen, Benefiz-Veranstaltungen oder rufen wie die Gessnerallee Zürich zu Aktionswochen auf, um konkret einen Beitrag zu leisten. Viele spannen mit humanitären Hilfsorganisationen zusammen, wie etwa das Luzerner Theater, das mit der Freiwilligen-Initiative «FRW Interkultureller Dialog» Projekte entwickelt. Im Foyer des Luzerner Theaters ist zudem die Ausstellung «Seelen-Landschaften» zu sehen mit Bildern von Menschen aus Afghanistan, Iran, Irak und Syrien.
Auch das Kultur-Festival «Tour de Lorraine» in Bern stellt die Flüchtlinge dieses Jahr ins Zentrum: «Refugees Welcome» lautet ihr Motto. Auf dem Programm stehen zahlreiche Konzerte, Workshops und die Aufführung «Mohrenkopf im Weissenhof» im Tojo Theater. Der in Bern lebende Dokumentalist Mohamed Wa Baile aus Mombasa erzählt darin von seinen Erfahrungen: Wie er immer wieder grundlos von der Polizei kontrolliert wird, auf seinem Arbeitsweg zur ETH Zürich oder vor der Kinderkrippe, wo er seine Kinder abholen will.
Gespielter Alltag
Einen anderen Zugang wählt das Flüchtlingstheater Malaika. Seit 2014 leitet Theaterpädagogin Nicole Stehli das Projekt, das Flüchtlinge und Einheimische zusammen auf die Bühne bringt und auch mit anderen Freizeit-Aktivitäten die Integration und die Sprachkenntnisse fördert. Kultur, Religion oder Alter spielen bei Malaika keine Rolle. Die Themen für ihre Stücke schöpfen die Laien-Darsteller aus ihrem Alltag im neuen Land, das ihnen Schutz gewährt, in dem sie aber oft um ihre Aufenthaltsdauer bangen müssen. Tragik, Humor und Lebensfreude wechseln sich ab. Viel Komikpotenzial bieten etwa die kulturellen Unterschiede – vom Busfahren bis zum Einkaufen gestaltet sich in der Schweiz vieles anders als im Herkunftsland.
Die Flüchtlinge sind im Theater angekommen – auf vielfältige Weise. Nicht nur die Solidarität steht im Zentrum, sondern auch konkretes Handeln. Die Politisierung der Theaterhäuser stösst einigen aber auch sauer auf, wie kürzlich etwa dem lettischen Regisseur Alvis Hermanis. Er kritisierte, dass sich das Hamburger Thalia-Theater und andere Häuser als «Refugees-Welcome-Zentrum» sähen. Es störe ihn, wenn ausschliesslich eine Seite zu Wort käme, sagte er gegenüber der NZZ. Die Fronten zwischen Politikern, Kulturschaffenden und Bevölkerung sind verhärtet. Die meisten Theaterschaffenden haben sich für die Menschlichkeit entschieden.
4 Fragen an die Luzerner Performerin und Autorin Beatrice Fleischlin, die zurzeit in Berlin an Theaterprojekten arbeitet
«Kunst darf ungemütliche Fragen stellen»
kulturtipp: Sie haben mit der Aktion «Just One Minute!» die Passanten in der Schweiz aufgewühlt. Wo ziehen Sie die Schnittstelle zwischen Kunst und Aktivismus?
Beatrice Fleischlin: Da gibt es keine klare Trennlinie. Es kommt immer auf den Kontext und den eigenen Blickwinkel an. «Just One Minute!» ist ein Mahnmal im öffentlichen Raum. Einige finden es extrem politisch und provokativ. Politische Aktivisten finden es eher harmlos. Ich selber würde es als Inszenierung bezeichnen. Es gibt eine Bühne, Darsteller und ein zufälliges Publikum. Für mich ist es Theater. Die Geschichte passiert im Kopf des Zuschauers.
Wie verhindert man als Kulturschaffende, dass das Projekt zum pietätlosen Happening wird? Was darf Kunst, wo sind die Grenzen?
Kunst darf sehr viel. Kunst darf ungemütliche Fragen stellen, irritieren, provozieren. Kunst darf uns immer wieder vor Augen führen, dass das, was wir als gegeben akzeptieren, nur ein Konstrukt ist, eine Möglichkeit von unzähligen. Kunst soll uns daran erinnern, dass wir uns nur für eine kurze Zeitspanne auf diesem unbedeutenden Klumpen Materie am äussersten Ende der Milchstrasse aufhalten können und es angebracht ist, ab und zu darüber nachzudenken, in was wir diese Zeit investieren wollen.
In Deutschland ist das Engagement der Kulturschaffenden für Flüchtlinge riesig. Reagieren die Schweizer langsamer?
In Berlin ist die Überforderung der Behörde mit dem, was man als «Flüchtlingskrise» bezeichnet, sehr sichtbar. Beim Landesamt für Gesundheit und Soziales, das für die Erstanmeldung von Flüchtlingen zuständig ist, warten Menschen tage- und nächtelang im Freien, bis sie überhaupt registriert werden. Es kommen jeden Tag Hunderte von erschöpften Menschen an. Alles, was sie besitzen, passt in einen Rucksack. Solche Bilder lassen keinen kalt und wecken das Bedürfnis, etwas zu tun. Aus diesem natürlichen, menschlichen Hilfsimpuls kommen viele Initiativen zustande. In der Schweiz gibt es diese Dringlichkeit wie in Berlin nicht. Die meisten von uns waren noch nie in einer Situation, die uns unmittelbar erschüttert hat. Wir kommen nicht in Begegnung mit den Geflüchteten. Wir können glauben, dass uns das nichts angeht. Aber wir müssen uns hier aktiv um die Begegnung mit der Welt bemühen, sonst geraten wir ins Abseits. Man darf aber nicht vergessen: Es gibt Gruppierungen, die sich in der Schweiz seit Jahren als Künstler und Aktivisten für Themen wie Migration und Asyl engagieren.
Was kann das Theater gegen Fremdenfeindlichkeit ausrichten?
Jede auch noch so alltägliche Aktion kann etwas gegen Fremdenfeindlichkeit ausrichten. Circa 35 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer haben einen Migrationshintergrund. Schon immer lebten Einheimische und Hierhergezogene friedlich zusammen. Wir müssen uns nur begegnen, dann können wir Angst abbauen. Angst ist die Keimzelle für Vorurteile und Feindlichkeit. Ich versuche, über meinen Beruf die Kommunikation mit «dem Anderen» zu führen und das, was ich erfahre, mit dem Publikum zu teilen. So wie im Projekt «Islam für Christen», das Antje Schupp und ich entwickelt haben. Wir, beide bekennende Nichtgläubige, haben uns intensiv mit dem Islam beschäftigt, mit hier lebenden Muslimen getroffen und Koranunterricht genommen. Was wir dabei erfahren haben, packten wir in unser Programm, das zugleich Theaterperformance und Religionscrashkurs ist. Es ist ein Stück, das nicht provozieren will, sondern zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Islam einlädt, eine Auseinandersetzung, die gerade in der aufgeheizten Situation dringend nötig ist.
Aufführungen
Die Töchter des Danaos
Bis Mi, 16.3., jew. 19.30 Vidmar Bern
www.konzerttheaterbern.ch
Mohrenkopf im Weissenhof
Sa, 23.1., 20.00 Tojo Theater Bern
www.tourdelorraine.ch
Flüchtlingstheater Malaika
Das Theater lässt sich für Auftritte engagieren: www.flüchtlingstheater-malaika.com
Ausstellung
Seelen-Landschaften
Bis Sa, 16.1. Foyer Luzerner Theater