Die Bühne ist ein schwarzer, mit Vorhängen abgetrennter Raum. Wenige Requisiten markieren die Szene während der Proben. Ein umgestürzter Bürostuhl, vorne ein Telefon. Und mittendrin unter Ärzten und Pflegern in weissen Kitteln agiert Hansjürg Müller als Wachtmeister Studer, sichtlich verunsichert von den Blicken, die ihn treffen und ihn taxieren, als wäre er selber ein Patient. Das Schicksal der Frau Schmocker (Diana Dengler) wird erörtert, die einen Bundesrat mit ungeladener Pistole bedroht hat, und nun in einer Badewanne über die Bühne gefahren wird.
Anspruchsvolle Regiearbeit
«Das Timing stimmt noch nicht», ruft Regisseurin Christina Rast aus dem Zuschauerraum. Und: «Ihr müsst das surrealer begreifen.» Dann verwandelt sich vor unseren Augen Anna Blumer vom Arzt Neuville in die Pflegerin Irma Wasem, die zu später Stunde mit dem verschwundenen Direktor Borstli spazieren gegangen ist. Und in die der – ebenfalls verschwundene – Patient Pieterlen verliebt ist. Oder war. Denn man weiss nicht, was aus ihm geworden ist. Christina Rast erarbeitet jeden einzelnen Blick der Mitspieler, die Studer treffen und unsicher machen.
Ein Wachtmeister mit helvetischen Zügen
Mit «Matto regiert» haben Christina Rast und ihre Schwester Franziska, die für Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet, einen besonderen Stoff übernommen. «Ich empfinde Glauser mit seiner ganz eigenen Melancholie und bildhaften Kunstsprache als einen sehr schweizerischen Schriftsteller – und auch seinen Wachtmeister Studer als eine typisch schweizerische Figur», sagt Christina Rast. Studer trage mit seiner tiefen Aversion gegen fremde Autoritäten und seiner brummeligen Sturheit unverkennbar helvetische Züge. «Er ist eigenbrötlerisch, beharrlich, manchmal konservativ, ist bernerisch langsam und wird deshalb gern unterschätzt. Aber er ist auch ein Genussmensch, raucht, trinkt, isst und lacht gern. Ich muss da oft an meinen Grossvater denken.»
Autor Glauser hat 1936 in diesem Kriminalfall, der in der Anstalt Randlingen spielt, jene Erfahrungen verpackt, die er selber in der Anstalt Münsingen gemacht hat. Dorthin kehrt er süchtig, selbstmordgefährdet und unter Vormundschaft gestellt, immer wieder zurück. Die Anstalt: Sie ist auch ein Raum zum Schreiben. Und Glauser schildert die Psychiatrie seiner Zeit genau so, wie sie gewesen sein muss. Erfüllt von schrecklichen Schreien, die erst später, mit der Verbreitung der Psychopharmaka, aus der Welt geschafft werden.
In Studer entwirft Glauser ein positives Gegenbild zum verhassten Vater – das aber in «Matto regiert» hart an seine eigenen Grenzen stösst. Er treibt den Pfleger Gilgen (Tobias Graupner) in den Tod, und er deckt die verheerenden Menschenversuche des Dr. Laduner (Marcus Schäfer). «Das geht mich Laien nichts an», sagt er nur.
Ein komplexer Theaterstoff
Dr. Laduner steht auch für den Fortschritt und die Forschung zum Wohle der Menschheit. Er führt humanere Behandlungsmethoden ein und träumt von einer besseren Welt. «Wir sind nicht im Zuchthaus, sondern in einer Heilanstalt», sagt er.
Die entscheidende Frage für die Theatermacher lautet: Wie macht man aus einem 300-Seiten-Roman um einen einsamen Kommissar, der zeitweise mehr seinen Gedanken und Selbstzweifeln nachhängt, als aktiv zu ermitteln, ein Theaterstück? «Als ich angefangen habe, mich mit der Schweiz zu beschäftigen, haben viele gesagt: ‹Du musst den Studer lesen›», erzählt Dramaturg Armin Breidenbach, der aus Deutschland kommt. «So kam ich auf ‹Matto regiert›, und habe mir gedacht: Das wäre doch ein super Stoff fürs Theater.» Einfach ist es dennoch nicht.
«Die Glauser-Krimis sind sehr komplex», sagt Christina Rast, die zusammen mit Breidenbach das Stück erarbeitet hat. «Denn der Krimi ist ja nur der Aufhänger für eine Gesellschaftsstudie. Wir versuchen, einzelne Motive und Verhaltensweisen herauszuschälen.» Darf man zum Wohle der Wissenschaft über Leichen gehen? Das ist eine der Fragen, um die es geht. Und eine andere: Was ist normal, was Wahnsinn? Wobei Rast einfällt, dass noch ein anderer Schriftsteller, den sie als sehr schweizerisch empfindet, Jahrzehnte in der Psychiatrie verbrachte: Robert Walser. Ist das Zufall? Oder nicht? Die Schweiz als Irrenhaus? Oder umgekehrt: Das Irrenhaus als Mikrokosmos der Schweiz.
«Studer verliert sich in der Anstalt», sagt Christina Rast. Diesen Prozess sucht sie in der Gestaltung der Szenen deutlich zu machen – in Bewegungen, Körpersprache, Blicken.
Zwei Schwestern – eine gemeinsame Sprache
Auf dem Theater interessiert sie nicht ein 1:1-Realismus, «das kann der Film besser». Der Stoff muss übersetzt werden, «manchmal auch in eine bestimmte Form von Künstlichkeit». Regisseurin Christina Rast muss starke Bilder finden – zusammen mit ihrer Schwester, die von der bildenden Kunst herkommt. Das sei zwar eine ganz andere Ecke, sagt sie. «Aber wir haben gemeinsam eine Sprache entwickelt und eine klare Vorstellung, wo unsere Arbeit jeweils hinführen soll.»
Matto regiert
Premiere: Fr, 12.1., 19.30
Theater St. Gallen