Unlängst bin ich in Bern über die Kirchenfeldbrücke spaziert und habe die Bäume auf der Terrasse des Casino-Restaurants gesehen. Das erinnerte mich an ein Interview mit Friedrich Dürrenmatt, der im Dokumentarfilm «Porträt eines Planeten» gefragt wird, was Humor ist. Da erzählt er eine Anekdote aus seiner Studentenzeit.
Er sei über die Brücke in Richtung Universität unterwegs gewesen, bei der Casino-Terrasse auf einem Hundedreck ausgerutscht und auf dem Hintern gelandet. Ein Gärtner habe dort die Bäume geschnitten und das Malheur beobachtet. Dürrenmatt habe darauf eine Philosophie-Vorlesung besucht und sei zwei Stunden später wieder auf demselben Hundedreck ausgerutscht, und der Gärtner habe dies ebenfalls gesehen.
Als Dürrenmatt erneut auf seinem Hintern sass, habe er in den Augen des Gärtners ein ungeheures Erstaunen gesehen. Ungläubig habe ihn dieser angestarrt und vermutlich gedacht: Was ist das für ein Idiot, der zweimal auf demselben Hundedreck ausrutscht? Mit welch unvorstellbarer Dummheit muss einer geschlagen sein, dem dies widerfährt?
In Anbetracht der Casino-Bäume fiel mir nicht nur diese Geschichte ein, sondern auch, dass 2021 ein Dürrenmatt-Jubiläum gewesen wäre. 1921 geboren, 100 Jahre Dürrenmatt. Gewesen wäre, weil dieses Jubiläum natürlich etwas unterging. Veranstaltungen wurden abgesagt oder ins Netz verlegt.
Deshalb beschloss ich, quasi als persönliche Jubiläumsfeier, eine Wiederaufführung der Hundedreck-Situation zu versuchen. Ein Reenactment. Auch ich möchte das unendliche Erstaunen ob meiner Dummheit in den Augen eines Gärtners sehen.
Wann die Bäume auf der Casino-Terrasse geschnitten werden, war gar nicht so einfach in Erfahrung zu bringen. Ich rief einfach mal im Casino an, konnte allerdings die Frage «Warum wollen Sie das wissen?» nicht schlüssig beantworten. Zwei Tage später rief ich mit verstellter Stimme nochmals an und behauptete, ich sei Journalist, grosse Baumschnitt- Reportage. So gings.
Hundedreck liegt heutzutage nicht mehr in Hülle und Fülle herum. Ich wollte auf Nummer sicher gehen und auf frische Eigenproduktion setzen. Drum habe ich auf einer dubiosen Website einen Hund gemietet. Mit einem Mobility bin ich ins Krauchtal gebraust und habe den Köter abgeholt. Ein ungehobeltes Viech, welches partout nicht auf dem Rücksitz hocken wollte, sondern mir wiederholt auf den Schoss geklettert ist und von unten die Bartstoppeln geleckt hat. Zudem ist er mit dem einen Hinterhaxen dauernd von meinem Oberschenkel gerutscht und auf dem Gaspedal gelandet, sodass wir mehrmals schier in einen Baum geprallt sind. Irgendwie kamen wir bis Bern.
Im Coop City habe ich fünf Pack «Pedigree Senior Kalb & Geflügel Exzellente Vitalität» gekauft. Darauf habe ich den Kläffer zum Pärkli vis-à-vis der Casino-Terrasse geschleift und ihm die fünf Pack verfüttert. Auf der Terrasse waren zwei Gärtnerinnen bei der Baumpflege. Nach Pack fünf ist der Hund stante pede eingeschlafen. Geduld, Geduld. Ich sass auf einem Bänkli und schaute mich um. Alle umliegenden Bänklis waren besetzt. Allenthalben wurde gejohlt, geschimpft und getrunken. Ich dachte wieder an Dürrenmatt. Und wie er angeblich bei Heimspielen sein Teleskop auf das Stadion Maladière gerichtet habe, um so von seinem Hügel aus Neuchâtel Xamax live zu schauen. Ich stellte mir vor, dass er infolge der Vergrösserung vielleicht nur einzelne Grashalme gesehen hat. Und deshalb 1986 den grossen 2:0-Sieg gegen Real Madrid nur auf einer botanischen Ebene miterleben konnte.
Der Hund schlief.
Der Hund bei Dürrenmatt. Auch ein Thema. In seinem Leben und Werk wimmelt es von Hunden. In «Porträt eines Planeten» erzählt Dürrenmatt, wie er als Kind mit einem Wolfshund spazieren gegangen sei und dieser ihn plötzlich angegriffen habe. Es sei ein Kampf zwischen ihm und dem Hund entbrannt, bei dem er einen starken Hass auf das Tier empfunden habe. Er habe sich gewundert, welch abgrundtiefer Hass zwischen Mensch und Tier entstehen könne. In der Kurzgeschichte «Der Hund» wird dieser als «riesiges und entsetzliches Tier» beschrieben. «Seine Augen waren schwefelgelb, und wie es das riesige Maul öffnete, bemerkte ich mit Grauen Zähne von ebenderselben Farbe, und seine Gestalt war so, dass ich sie mit keinem der lebenden Wesen vergleichen konnte.»
Der Hund schlief. Allmählich wurde es Abend, die eine Gärtnerin begann bereits, ihre Gerätschaften zusammenzupacken. Und scheissen musste er ja auch noch. Ich versuchte, den Hund zu wecken. Zuerst sanft, dann wurde ich rabiater. Bis er erschrocken aus dem Schlaf aufscheuchte und sich in meiner Wade verbiss. Ohne wieder abzulassen. Ich juckte vom Bänkli auf, riss meine Haxe in die Höhe, daran hing der Hund. Ich drehte mich jaulend im Kreis und vollführte einen Schmerztanz. Auf den umliegenden Bänklis wurde es still. Alle starrten mich entsetzt an. Und dachten vermutlich: Was ist das für ein Idiot, der von seinem eigenen Hund derart massiv angegangen wird? So sah ich in den Augen der Bänklinachbarn auf wundersame und unerwartete Weise doch noch das grosse Erstaunen ob meiner unvorstellbaren Dummheit.
Insofern hat sich die Aktion durchaus gelohnt.
Matto Kämpf
Matto Kämpf wurde 1970 in Thun geboren. Der Spoken-Word- Poet schreibt Bücher und Theaterstücke, ist Mitglied der Band «Trampeltier of Love» und im Duo mit Autor Rolf Hermann unterwegs. Aktuell tourt er mit zwei Soloprogrammen durch die Schweiz: «Heimat ist da wo man sich aufhängt» und «Am Apparat». Matto Kämpf lebt in Bern.