Wäre das Treffen mit Matthias Gnehm eine Szene in einem seiner Comics, er würde sie vielleicht so erzählen. 1. Panel: Zürich Wiedikon aus der Vogelperspektive, Autos auf den Strassen, ein Zug im Bahngraben, eine Sprechblase aus dem dritten Stock eines Geschäftshauses deutet an, wo die Handlung stattfindet. 2. Panel: das Atelier von Matthias Gnehm, ein Bett, zwei Regale, ein Tisch, über den sich der Comic-Zeichner beugt. 3. Panel: Gnehms Hand kratzt mit einer Rasierklinge Pastellfarbe von einer Zeichnung.
«Lehrmeister» Alfred Hitchcock
An diesem Montagmorgen zeigt Matthias Gnehm, woran er gerade arbeitet. Auf dem Zeichentisch liegt eine halbfertige Seite. In einem bereits kolorierten Panel ist das nächtliche Boston zu sehen: Wo die Rasierklinge dunklere Farbschichten abgetragen hat, strahlen jetzt hell erleuchtete Fenster. «So schaffe ich eine Tiefenwirkung», erklärt Gnehm. Die Seite gehört zu seinem Fortsetzungs-Comic «Die Therapie der Zeit», der während zwölf Jahren den Neubau des Kantonsspitals St. Gallen begleitet.
Architektur spielt eine zentrale Rolle im Schaffen des 48-jährigen Zürchers. In «Die Bekehrung» thematisiert er die Zersiedelung. «Die kopierte Stadt» dreht sich um den Nachbau von Zürich im chinesischen Kunming. Das Interesse kommt nicht von ungefähr: Gnehm ist diplomierter Architekt. Und doch ist es nicht die Passion allein, weshalb er Bauten und Städte in die Comics einbaut. «Ich versuche, meinen Geschichten Glaubhaftigkeit zu verleihen, indem ich sie in realen Städten verorte.»
Jetzt holt Matthias Gnehm ein Buch aus einem Regal: Interviews, die der Regisseur François Truffaut mit seinem Kollegen Alfred Hitchcock über dessen Arbeit führte. «Ich habe von Hitchcock viel gelernt», sagt Gnehm, «wie man die Figuren entwickelt, verschiedene Bildebenen verbindet.» Den Einfluss spürt man. Etwa, wenn Gnehm mit Totalen arbeitet und dann an eine Figur heranzoomt. Oder wenn er Gebäude in seinem neusten Band «Salzhunger» als Erzählmittel einsetzt. In diesem Comic-Thriller gehen die Umweltaktivisten Arno Beder und Paula Hofer in Nigerias Hauptstadt Lagos den Machenschaften eines Rohstoffkonzerns nach. Die rasante Wirtschaftsentwicklung und die sozialen Konflikte bilden den Hintergrund der Geschichte – die Spannungen lassen sich an den Zeichnungen von Neubauten und Slums ablesen. Auch das Innenleben von Protagonist Beder spiegelt sich in dessen Umgebung. Mit hängendem Kopf geht er einmal durch die Langstrassenunterführung in Zürich; die unterkühlte Stadtlandschaft gibt seine innere Leere wieder. Architektur ist nie einfach nur Architektur. Schon gar nicht in den Comics von Matthias Gnehm.
Comic
Matthias Gnehm
Salzhunger
224 Seiten
(Edition Moderne 2019)
Matthias Gnehms Kulturtipps
KUNSTBUCH
Marcel Gähler: Die aufgehobene Zeit (Edition Dittmar 2018)
«Der Magie von Marcel Gählers Zeichnungen kann man sich nicht entziehen. Man taucht in ein Universum aus Licht und Erinnerungen ein.»
Film
Jeshua Dreyfus: Sohn meines Vaters (CH 2018)
«Die wunderbaren Zeichnungen der Hauptfigur Simon wurden vom Comic-Künstler Noyau gezeichnet, welcher das Filmteam auch beraten hat.»
Buch und Musik
Markus Ganz: Zurück zu den Seen
Mit Werken von Betha Sarasin (Reinhardt 2018, Sonderedition)
«Ein Gesamtkunstwerk. Musik, Texte und Bilder fügen sich zu einem Trip durch Raum und Zeit. Der Band knüpft an ‹Die Reise zu den Seen› (1988) an.»