Matthias Brandt: Wie es damals war
Der 55-jährige Schauspieler Matthias Brandt erinnert sich in «Raumpatrouille» an seine ereignisreichen Kindheitsjahre – 14 anrührende Geschichten, fein erzählt mit leiser Komik.
Inhalt
Kulturtipp 24/2016
Letzte Aktualisierung:
17.11.2016
Urs Hangartner
Der Vater ist ein hohes Tier in der deutschen Politik. Man nennt ihn «den Alten» oder «den Chef». Er heisst Willy Brandt und ist Bundeskanzler. Die Familie lebt in der Villa in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn. Einer von Brandts Nachbarn heisst Herr Lübke. Der Ich-Erzähler geht ihn gelegentlich besuchen, man trinkt Kakao. «Vielleicht verstanden Herr Lübke und ich uns gut, weil seine Wahrnehmung sich damals aufgrund seiner Krankheit wieder der We...
Der Vater ist ein hohes Tier in der deutschen Politik. Man nennt ihn «den Alten» oder «den Chef». Er heisst Willy Brandt und ist Bundeskanzler. Die Familie lebt in der Villa in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn. Einer von Brandts Nachbarn heisst Herr Lübke. Der Ich-Erzähler geht ihn gelegentlich besuchen, man trinkt Kakao. «Vielleicht verstanden Herr Lübke und ich uns gut, weil seine Wahrnehmung sich damals aufgrund seiner Krankheit wieder der Welt eines Kindes annäherte und unsere Entwicklungswege sich kreuzten.» Hermann Lübke war ehemaliger Bundespräsident der BRD, «galt als Witzfigur und wurde öffentlich verhöhnt».
Im Haushalt der Brandts befindet sich ein altes Röhrenradio: «Ich mochte an ihm besonders das magische Auge, das leuchtend grün die Signalstärke anzeigte, und die rätselhaften Sendernamen auf der Skala: Hilversum, Beromünster.» Im Fernsehen laufen die Vorabendserien «Bezaubernde Jeannie» und «Bonanza», der Junge staunt ob der Mondlandung im Jahr 1969. Bei ihm selber haben sich zwei Berufswünsche herausgebildet: «Astronaut und, falls das nicht klappte, Briefträger.»
Köstlich die Episode einer dramatischen Velofahrt. Die Mitarbeiter von Kanzler Brandt und seines Parteikollegen Herbert Wehner kamen auf die Idee, ein gemeinsamer Ausflug sollte das gespannte Verhältnis zwischen den beiden auflockern. Der Ich-Erzähler ist mit dabei, als die Politiker tatsächlich zur Velotour aufbrechen – die wegen der Fahrunfähigkeit des Vaters vorzeitig im Debakel endet.
Das alles ist fein erzählt, von leiser Komik durchdrungen. Wie viel ist wahr, was ist erfunden? Der mit «Raumpatrouille» als bemerkenswerter Autor debütierende Matthias Brandt erklärt sich im schelmischen Motto zu seinem «Geschichten»-Buch mit Kindheitserinnerungen: «Alles, was ich erzähle, ist erfunden. Einiges davon habe ich erlebt. Manches von dem, was ich erlebt habe, hat stattgefunden.»
Matthias Brandt
Raumpatrouille.
Geschichten
176 S. (Kiepenheuer & Witsch 2016).