«Komm heim», fleht der Onkel. Aber Nathi reagiert nicht auf seine SMS. Er und seine Freunde schmeissen lieber nach dem Aufstehen Schmerztabletten ein. Nachmittags schnüffeln sie Farbverdünner, nehmen noch mehr Pillen. Abends fahren sie zu einer Künstler-Party, wo sie sich mit Gras und Merlot den Rest geben. Das Trio lässt sich im Drogenrausch tage- und nächtelang durch Kapstadt treiben.
Es könnte genauso gut Berlin, London oder Edinburgh sein. Im ersten Teil von Masande Ntshangas Debütroman erinnert fast nichts mehr an die Schrecken der Apartheid, das Elend der Schwarzen und den Befreiungskampf. Die Mittzwanziger Nathi, Cecilia und Ruan haben eigene Wohnungen, Handys und Internet. Ich-Erzähler Nathi jobbt in einer Videothek, er hat studiert. Über die Hautfarbe verliert er kein Wort, über Politik schon gar nicht.
Ein dunkles Kapitel nach der Befreiung Südafrikas
Bei seiner Arbeit als Laborassistent hat er sich mit dem HI-Virus infiziert. Der Unfall brachte ihm eine Abfindung ein, mit der er eine Krankenversicherung abschliessen konnte. Diese zahlt ihm seine Medikamente. Lakonisch bezeichnet er sich, als «der, der sterben soll». Ansonsten versucht er, nicht an das Thema zu denken. Zugedröhnt klappt das besser als nüchtern.
Nathi verkauft seine Medikamente, um Khat und andere Drogen zu besorgen. Die Abnehmer findet er bei inoffiziellen HIV-Gruppentreffen. Der Roman spielt im Jahr 2003 und verweist auf ein dunkles Kapitel nach der Befreiung des Landes: Präsident Thabo Mbeki leugnete von 1999 bis 2008 kategorisch den Zusammenhang zwischen HIV und Aids – auch eine Folge der traditionellen Homophobie. Die Regierung weigerte sich, Betroffene mit Medikamenten zu versorgen. Ein Schwarzmarkt entstand: 330 000 Infizierte starben, und 170 000 Menschen steckten sich neu an. Das fanden Forscher der Universitäten Harvard und Kapstadt heraus.
Nathi quälen Schuldgefühle. Vor zehn Jahren zwang seine Familie seinen schwulen Bruder, sich beschneiden zu lassen. Die Xhosa-Familie wollte ihn mit dem archaischen Ritual «von einer Schwuchtel zum Mann machen», er aber starb daran. Dutzenden jungen Männern ergeht es jedes Jahr genauso. Nathi war damals schon abgehauen.
Lässige, präzise Sprache
«Positiv» ist ein dichter Roman über eine entwurzelte, desillusionierte Generation. Der Befreiungskampf ist vorbei, der Turbokapitalismus für sie kein Versprechen. Von der Familie und den afrikanischen Traditionen haben sie sich abgewandt. Der Autor gehört dieser Generation an. Er wurde 1986 in der südafrikanischen Hafenstadt East London geboren, studierte in Kapstadt Medienwissenschaften, Englisch sowie Kreatives Schreiben. Heute lebt er in Johannesburg.
Eine Stärke des Romans ist seine Sprache. Nathi erzählt lässig und präzise, gelegentlich poetisch. Eine Schwäche ist, dass Nathis Motive im letzten Kapitel, als er zu seinem Onkel an den Stadtrand zurückkehrt, im Dunkeln bleiben. Von der Infektion erzählt er niemandem. Aber das Aufgehobensein in der Gemeinschaft tut ihm gut.
Buch
Masande Ntshanga
Positiv
200 Seiten
(Das Wunderhorn 2018)