Vor 200 Jahren erschuf die 19-jährige Mary Shelley ein Monster, das die Menschheit seither nicht mehr loslässt: In ihrem Roman «Frankenstein» lässt sie den ehrgeizigen Forscher Frankenstein alchemistische Experimente durchführen. Tatsächlich gelingt es ihm in intensiver Arbeit, oft am Rande des Wahnsinns, toter Materie Leben einzuhauchen. Nach der Euphorie folgt allerdings das Entsetzen: «Nun aber, da mein Werk vollbracht war, verblasste der schöne Traum, und Abscheu und atemloses Grauen erfüllte mein Herz.» Die Kreatur mit seinen gelben Augen und «schmalen, schwarzen Lippen» empfindet der Forscher als so abgrundtief hässlich, dass er aus seinem Labor flüchtet.
Entstehung eines Mythos am Genfersee
Mit dieser Flucht vor der Verantwortung besiegelt Frankenstein sein Schicksal und das des selbst erschaffenen Monsters: Denn das Geschöpf erschreckt sein Umfeld zwar durch sein Äusseres, hat aber auch ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Gesellschaft, empfindet Liebe und Empathie. Diese Gefühle wandeln sich allerdings in puren Hass, als es merkt, dass kein Mensch und schon gar nicht sein Schöpfer ihm wohlgesinnt ist. «Wenn ich nicht Liebe schenken kann, werde ich Furcht säen», ist seine Schlussfolgerung, und es tötet auf seinem Rachefeldzug alle Menschen, die Frankenstein nahestehen.
Diese grauenerregende Geschichte hat sich die Autorin Mary Shelley (1797–1851) am Genfersee ausgedacht. Die 19-Jährige war 1816 mit dem englischen Dichter Percy Bysshe Shelley von zu Hause fortgelaufen und hatte sich mit ihm in der Villa des britischen Schriftstellers Lord Byron in der Nähe von Genf einquartiert. 1816 ging als «Jahr ohne Sommer» in die Geschichte ein, weil in Indonesien ein Vulkan ausgebrochen war und Aschewolken über Europa lagen. Die düstere Zeit vertrieben sich die Dichter mit dem Vorlesen und Schreiben von Gespenstergeschichten.
Aus diesem Dichter-Wettstreit entstand Shelleys berühmtes Meisterwerk, das seither zahlreiche Film- und Theateradaptionen erlebte. In Zeiten von Gentechnologie, in der die Forscher an ethische Grenzen stossen und sie teilweise überschreiten, ist der Frankenstein-Mythos aktueller denn je. Auch das Thema des furchterregenden Monsters mit Herz wurde immer wieder aufgenommen. Kürzlich etwa im Oscar-Gewinner-Film «Shape Of Water», für den sich der Regisseur Guillermo del Toro von Frankensteins Geschöpf inspirieren liess.
Zwischen Science-Fiction, Schauer- und Sozialroman
Zum Jubiläumsjahr gibt der Manesse Verlag den faszinierenden Klassiker in einer schön gestalteten Ausgabe heraus – in neuer Überarbeitung des Übersetzers Alexander Pechmann, der sich auf die Urfassung des Romans stützt. Die vielschichtige Gruselgeschichte sollte man nicht nur im Film mit Schauspieler Boris Karloff gesehen haben, der 1931 das Bild des vordergründig abstossenden Ungeheuers geprägt hat. Georg Klein weist im Nachwort darauf hin, dass aus der «Not der Visualisierung» in den Filmen einige Aspekte des Romans verloren gehen. Denn während Mary Shelley sich vor allem auf die Innerlichkeit des Monsters konzentriert und das Bild der Kreatur im Kopf des Lesers entstehen lässt, muss sich der Film visuell festlegen. In Shelleys Werk, das zwischen Science-Fiction, Schauer- und Sozialroman changiert, kommt besonders die Ambivalenz des Monsters zum Tragen.
Buch
Mary Shelley
Frankenstein
Dt. Erstausgabe: 1912
Heute erhältlich im Manesse Verlag in der Übersetzung von Alexander Pechmann