Das Ufer ist ein schiefes Feld.
Ein Bagger ist bereits in Bewegung.
Vor dem Horizont schnaubt er der Küste entlang
und erledigt die morgendliche Säuberung.
Die Schaufel schiebt angeschwemmte Steinbrocken vor sich her.
Unter mechanischem Gekreische weichen
lästiges Kies, hinderliche Klumpen vom Strand,
weg von dieser Fläche, die ein fremdes Eigentum ist.
Doch der Besucher wird gut behandelt hier.
Wie ein Eroberer steht er da,
die Hände in die Hüfte gestützt, das Kinn im Wind.
Mit nackten Füssen geht er über den Sand, schlendert zum Wasser,
wo er seine Sohlen in den salzigen Schaum hält –
und sich Heilung erhofft:
Gegen diesen verfluchten Ausschlag.
Aber das Mittelmeer hilft.
Glaubt der Besucher,
und tunkt sein Fleisch hinein,
ist sich dann doch nicht sicher.
Also stakst er zur Böschung, wo eine Steintreppe hinaufführt,
zur Baracke mit den Tüchern, vorbei am Wasserbecken,
und hinein in die Empfangshalle mit ihrer Verbindung zur Aussenwelt.
Das werden wir ja bald wissen.
Denkt der Besucher in einem falschen Plural
und tippt in sein handliches Gerät die Suchwörter:
Ekzem Mittelmeer Haut Heilung.
Dann Enter,
hat daraufhin aber vier Minuten zu warten.
Die kabellose Kommunikation scheint überlastet hier, weil:
Hier ist eben nicht zu Hause.
Grummelt der Besucher
und hat Zeit genug, innerlich zu fluchen über:
Dieses Fremdenheim!
Die internationalen Netzbetreiber!
Wird sich seiner Arroganz sofort bewusst,
dreht den Spiess um und schimpft zum Ausgleich über:
Meine Ungeduld!
Dabei habe ich viel Geld ausgegeben,
um herzukommen – und zur Ruhe.
Entspannung ist die Devise!
Befiehlt er sich strategisch selber
und spaziert wieder zum steinfreien Strand,
diesmal bewusst langsam, so langsam wie möglich,
bis es sich wie ein Warten anfühlt,
ein Warten auf etwas, das der Besucher sucht
und das sich gefälligst einzustellen hat,
auch während er liegt und liest,
wobei er nur so tut, als ob er läge und läse,
denn in Wahrheit lauert er – auf die Erholung.
Ein Lied weht von der Bäderlandschaft herunter.
Die bekannte Melodie wird von einer unbekannten Stimme unterbrochen,
sie kündigt ein Spiel an, bei dem es etwas zu gewinnen gebe.
Wer hat denn hier das Gewinnen noch nötig?
Denkt der Besucher.
Sein Blick gleitet über das leere Mittelmeer.
Die Stimme in seinem Rücken spricht von einem Getränk als Preis,
ausserdem sei es wirklich ein:
Easy Game! Madame, Monsieur!
And it’s really for everybody out there!
Der Besucher verdreht die Augen im Schutz seiner Zeitung.
Dieses Verhalten unterscheidet ihn,
den Besucher mit gelbem Armband,
von den Besuchern mit rosa Armbändern,
die seit zehn Uhr morgens in Plastikstühlen sitzen
und sich zur Beruhigung gebrannte Wasser verabreichen.
Mit Abscheu schleicht der Besucher an ihnen vorbei
zur Holzbaracke mit der Überschrift «Bar Mare».
Weltmännisch studiert er die bunten Bilder
und versucht nebst den bekannten Begriffen wie
Hot Dog, Pizza
die Fremdbezeichnungen
Schiacciata? Cartoccio?
Zu entziffern.
Durch Tippen bestellt er schliesslich einen Toast,
der im Prinzip besteht aus:
Quadratisch-flächigem Gebäck aus Weizenmehl, Wasser, Milch, Hefe,
auf quadratisch-flächigem Fleisch eines gekochten Schweins,
auf quadratisch-flächigem Milcherzeugnis einer Kuh
auf quadratisch-flächigem Gebäck aus Weizenmehl, Wasser, Milch, Hefe.
Derweil trotzen die Sonnenschirme der Strahlung,
damit die Haut des Besuchers heil bleibt,
damit er keinen Sonnenbrand kriegt,
keine Rötungen, Juckflechten und:
Herrjesus, nicht noch mehr Schwachstellen!
Betet der Besucher,
und schiebt die Sonnenbrille zurecht.
Sicher ist sicher – und am sichersten ist eben am besten.
Weiss der Besucher,
wusste er schon, als er hergebracht wurde und erkannte:
Die Anlage tut wie ein Hotel, bleibt aber eine Anlage.
Sie ist an den Rändern eingezäunt und gegen den Himmel beschirmt.
Gefahrenlos verläuft hier der Nachmittag nach Zeitplan.
Die Sonne durchzieht das fleckenlose Hellblau.
Sie wirft ihre Schatten mit Präzision und
versinkt termingerecht im Meer.
Erst die Dämmerung verscheucht den Besucher
hinein in seinen nummerierten Raum,
hinein in die saubere Waschkabine,
wo er die Trägheit des Tages abduscht,
die geschwächten Stellen mit Schutzsalbe einreibt.
Die geplagten Füsse steckt er in Socken –
und die Socken in Sommerschuhe.
So schleppt sich der Ermüdete zum letzten Test des Tages: das Buffet.
Schale um Schale gilt es hier Entscheidungen zu fällen.
Menge, Zutaten, Geschmack, Reihenfolge.
Doch das dargebotene Übermass bringt
den Schöpfenden bis zur Erschöpfung.
Es hat genug – es hat doch genug für alle!
Beruhigt er sich in Gedanken
und wirkt umso beunruhigter,
schleicht um Schüsseln und Wärmelampen,
drängt sich gerade dort, wo alle sich drängen, um etwas zu wollen.
Erst im Schlaf entspannt sich der Besucher.
Das weisse Leintuch bedeckt seinen müden Leib.
Draussen legt sich die Nacht auf die Erde.
Sterne glimmen aus dankbarer Ferne,
bescheinen die verdunkelten Zustände:
Das nahe Ufer bleibt ein schiefes Feld.
Nur die Gezeiten wechseln.
Das Meer schickt seine Wogen
und schwemmt unbeeindruckt
neue Steinbrocken an Land.
Martina Clavadetscher
Martina Clavadetscher (*1979) studierte Germanistik und Philosophie. Die Schwyzerin ist seit 2009 als
Autorin, Dramatikerin und Radiokolumnistin tätig. Zuletzt ist ihr Band «Knochenlieder» erschienen, mit dem sie 2017 für den Schweizer Buchpreis nominiert war.
www.martinaclavadetscher.ch