Vor kurzem hatte das Tanzstück «Wonderful World» Premiere. Der Zürcher Martin Zimmermann hat es in Co-Regie mit Kinsun Chan, dem künstlerischen Leiter der Tanzkompanie St. Gallen, erdacht. Im Stück feiern junge, exzentrisch gestylte Leute eine Party. Champagnerkorken knallen, während sie in Instagram-Posen ihre Individualität ad absurdum zelebrieren. Bis die Katastrophe in die Glitzerwelt einbricht und alle in den dunklen Strudel der Zerstörung hineinreisst. «Von Anfang an war uns dieser Kippmoment wichtig», erzählt Zimmermann, «doch vor zwei Jahren, als Kinsun und ich das Konzept diskutierten, dachten wir eher an die negativen Folgen der Globalisierung. Jetzt hat uns der Ukraine-Krieg eingeholt.» Zimmermanns Arbeiten tragen seit eh und je eine Abgründigkeit in sich. In den über 20 Jahren seines Schaffens sind seine Bildwelten immer düsterer geworden.
Sein Fokus liegt bei den Figuren
Für den Freischaffenden und Freigeist war «Wonderful World» eine doppelte Premiere, denn es ist sein erstes Stück für ein festes Haus. Mit Kinsun Chan ist er seit Jahren befreundet; beide choreografieren, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Während Chan im neuen Stück vor allem die Gruppenszenen choreografierte, konzentrierte sich Zimmermann auf die Entwicklung der «Personnage», wie er es nennt. Mit seinem Hintergrund als Zirkusartist, Clown und Regisseur liegt sein Fokus bei den Figuren: «Für die jungen Tänzerinnen und Tänzer war das tragikomische Figurentheater etwas Neues.» Keine einfache Sache, die Kompanie in gerade mal fünf Probewochen mit dieser neuartigen Methode vertraut zu machen. Um die «Silhouette der Charaktere» herauszuschälen, probten die Tänzer ab der ersten Woche in den Kostümen und «mit Vollgas», wie er sagt. Dafür konnten sie den Kostümfundus des Theaters durchforsten. Andererseits machten die eher schwerfälligen Strukturen des Stadttheaters die Arbeit anspruchsvoll.
Trotzdem wagt Zimmermann im Herbst einen weiteren Versuch an einem etablierten Haus. Dann wird er am Theater Basel ein Tanzstück für Kinder inszenieren. Zusammen mit der Tänzerin Eugénie Rébétez hat er selber zwei kleine Kinder. Zürich ist die Heimat der Familie. Von hier aus brechen beide immer wieder auf, um ihre künstlerischen Projekte zu verfolgen. Manchmal komme er schon an seine Grenzen, gibt der Hans-Reinhart-Ring-Preisträger freimütig zu.
Während die Vorarbeiten für das nächste grössere Projekt bereits laufen, wird er am Schweizer Theatertreffen zwei seiner Arbeiten zeigen. Bei diesem Anlass findet auch die Vernissage des Buchs zu seinem künstlerischen Schaffen statt. Er hoffe, sagt Zimmermann, dass dieses Buch etwas dazu beitrage, den zeitgenössischen Zirkus bei uns «salonfähig» zu machen.
Wonderful World
Bis Do, 2.6., Lokremise St. Gallen
Weitere Tourneedaten:
martinzimmermann.ch/on-tour
Schweizer Theatertreffen
Mi, 18.5.–So, 22.5. Chur & Liechtenstein
www.rencontre-theatre-suisse.ch
Martin Zimmermanns Kulturtipps
Buch
Édouard Louis: Die Freiheit einer Frau (Fischer 2021)
«Der einfache, tiefgründige und direkte Schreibstil spricht mir aus dem Herzen. Im letzten Buch schreibt er schonungslos und liebevoll von seiner Mutter.»
Ausstellung
Federico Fellini – Von der Zeichnung zum Film
«Der grosse Filmemacher und Karikaturist ist und bleibt für mich eine grosse Inspiration.»
Fr, 1.7.–So, 4.9. Kunsthaus Zürich
Film
Wes Anderson: The French Dispatch
«Die Filme von Wes Anderson sind wie fantastische Gemälde, ein sensibles Figurentheater auf höchstem Niveau. In ‹The French Dispatch› haben mich die einzelnen Einstellungen schlicht beglückt.»