Er ist ein Polizist der feinfühligen Sorte: «Bruno glaubt zu spüren, wie sich in seinem Kopf ein Gedanke anbahnt, der ihm aber, flüchtig, wie er war, sofort wieder verloren geht. Solche Ahnungen hat er öfter.» Sie helfen ihm, bei seinen Ermittlungen im südfranzösischen Périgord weiterzukommen.
Soeben ist der zehnte Kriminalroman des britischen Schriftstellers Martin Walker unter dem Titel «Revanche» herausgekommen. Protagonist ist wiederum der Polizist Bruno Courrèges, ein unscheinbarer Ermittler, der gerade deswegen liebenswürdig ist und eine gewaltige Anhängerschaft hat. «Ich mag keine kaputten Typen», sagt Martin Walker, «meine Leser wollen das nicht, und meine Leserinnen schon gar nicht.» Er ist gegenwärtig auf Platz 1 der Schweizer Bestseller-Liste.
Bruno – ein Ermittler im Frauen-Dilemma
Walker sitzt gerade nicht im Périgord, sondern im lauschigen Garten des Zürcher Hotels Florhof und schlürft eine Art Holundersaft von schwer definierbarer Farbe. Dazu erklärt er den Charakter eben jenes unscheinbaren Ermittlers, dessen Wesen anscheinend unergründlicher ist, als man prima vista meinen könnte. «Er ist ein moderner Mann und liebt starke Frauen, die für ihn unerreichbar sind.» Da ist vor allem seine grosse Liebe Isabelle, die im Pariser Innenministerium Karriere macht und für Bruno nach einem leidenschaftlichen Sommer weit weg ist.
«Das ist das Dilemma von Männern heutzutage», sagt Walker und meint damit, «dass intelligente Frauen als Partnerinnen für viele nicht infrage kommen, weil sie keine Familie wollen und somit eine feste Beziehung scheuen». Das sei in seiner Jugend anders gewesen. Der 71-jährige Walker ist seit 40 Jahren mit seiner Frau Julia zusammen, die den Hauskauf im Périgord getätigt hatte.
Vom Kriegsreporter zum Krimiautor
Walker arbeitete während Jahren für die britische Tageszeitung «Guardian» als Korrespondent in Moskau und Washington. Er rapportierte aus den Kampfzonen im Nahen Osten. «Im Irak musste ich aus einem Panzerfahrzeug berichten.» Später wechselte er zur Nachrichtenagentur United Press International und dann zum US-amerikanischen Think Tank A.T. Kearney, für den er heute noch tätig ist.
Der gebürtige Schotte von der entlegenen Hebriden-Insel Barra lebt nun in Washington D.C., im Londoner Stadtteil Fulham und in einem Dorf im Périgord, das als Saint-Denis in seinen Kriminalromanen Niederschlag gefunden hat. In diese Bücher packt er so ziemlich das gesamte Zeitgeschehen. Er schüttelt es wild durcheinander und zieht daraus Erzählstränge, die er raffiniert verwebt.
In seinem neusten Werk «Revanche» stürzt eine Frau vom Gemäuer einer mittelalterlichen Burg der Tempelritter zu Tode. Der Ort ist geschichtsträchtig: Von dort aus zogen die Christen zu den Heiligen Stätten nach Palästina.
Landjäger Bruno wird bei den Ermittlungen eine Kollegin vom französischen Justizministerium zugeteilt, die beobachten soll, wie die Gendarmerie in der Provinz bei der Arbeit vorangeht. Zuerst ist er misstrauisch, schliesst aber die dunkelhäutige Begleiterin nach und nach ins Herz.
Bei der zu Tode gestürzten Frau handelte es sich um eine israelische Friedensaktivistin. Sie könnte einem mittelalterlichen Testament der Templer auf der Spur gewesen sein, das belegen soll, dass der Islam nie einen historischen Anspruch auf Jerusalem erhoben hatte, zumal die Stadt im Koran nicht namentlich erwähnt sei. Gleichzeitig treiben angeblich islamistische Terroristen ihr Unwesen im Périgord und lösen eine Grossfahndung aus.
Der Genuss im Vordergrund
Obendrein ist in diesem Krimi immer wieder die Rede von Missbrauchsfällen, die eine lusche Kinderpsychiaterin gegenüber den Behörden einklagt. Neben alldem wird einem gefesselten Mittelalterdozenten das beste Stück angesengt.
Polizist Bruno findet das alles zwar fürchterlich, lässt sich aber nicht aus der Ruhe bringen und geht neben den Ermittlungen weiter seinen Liebhabereien nach: gutes Essen, feine Weine, Rugby und vor allem die Jagd.
Wie Walker von seiner Gedankenwelt berichtet, könnte man ihm stundenlang zuhören. Er ist der begnadete Erzähler, und man ist nie ganz sicher, ob er seine Geschichten wirklich glaubt oder einfach sehr schön findet. Was sie tatsächlich sind.
Unterwegs zu Hause – auch beim Schreiben
Jedenfalls sieht sich Martin Walker sich als Weltbürger mit Sinn für Romantik: «Ich fühle mich überall zu Hause», sagt er etwas salopp. Zürich findet er toll, aber die Hebriden-Insel Barra am Ende der Welt steht ihm doch «irgendwie sehr nahe». Er fahre regelmässig dorthin, um seinen Familienspuren nachzugehen, wenn er nicht gerade an einem seiner drei Wohnsitze weilt.
Einer, der so viel durch die Welt tingelt, findet kaum Zeit zum Schreiben, sollte man meinen: «Das macht mir gar nichts, ich kann überall schreiben – Zug oder Flugzeug.» Man glaubt es ihm gerne.
Buch
Martin Walker
Revanche
432 Seiten
Übersetzung: Michael Windgassen
(Diogenes 2018)