Die meisten von uns verbringen in ihrem Leben fast so viel Zeit vor dem Fernseher wie mit den Eltern. Das Fernsehen beeinflusst uns, oft ohne dass wir es bemerken, es schreibt an unseren Lebensgeschichten mit. Ich gehöre zur Generation, die zum ersten Mal ein Leben lang vom Fernsehen begleitet wurde. Meine persönliche Initiation erfolgte Anfang der 60er-Jahre bei einem Verwandten, der ein düsteres, sinnloses Möbel in der Ecke seines Wohnzimmers stehen hatte. Es sah aus wie die verdunkelte Luke eines Geisterschiffs, doch wenn man an einem Knopf drehte, defilierte die Schweizer Armee auf. Es war das grosse Defilee in Dübendorf, mitten im Kalten Krieg, und die Räder der Panzer drehten sich zu meinem Erstaunen rückwärts. Ich fragte den Onkel, was los sei, aber er schüttelte nur ergriffen den Kopf. Was wir beide nicht ahnten: Das eigentliche Ereignis waren nicht die sich rückwärts drehenden Panzer- und Pinzgauerräder, sondern dass wir durch die Röhre da hingucken konnten, wo wir nicht waren. Wir schauten fern. Wir guckten vom Oberwynental bis nach Dübendorf, später, 1969, mit Bruno Stanek, bis zum Mond. Der Einarmige Bruno Stanek war es, der zum ersten Mal mein Fernweh weckte. Ich mochte ihn, mehr als Heidi Abel, die aussah wie meine Tante Edith, und die immer inmitten kläffender Hunde kniete.
Seine Zeit vor dem Fernseher zu verbringen, war damals Luxus. Es gab Samstagabende, da waren die Strassen wie leergefegt. Es gingen die Morde der Durbridge-Krimis um. Blut war nicht Blut, so lautete die Lektion, sondern ein Spannungsbeschleuniger. Und: Es gibt kein Verbrechen, das nicht aufgeklärt wird. Dieses Vertrauen in die Gerechtigkeit wurde bald einmal durch die britischen Gentlemen erschüttert, die mit ihrem perfekten Postraub zur Kasse baten. Konnte Verbrechen sich doch lohnen?
Bald wurde ich zum Serienjunkie. Bei «Hiram Holliday» lernte ich, dass ein schmächtiger Kümmerling mit grosser Hornbrille stark sein kann. Gern sah ich auch «Mr. Ed: Das sprechende Pferd» und «Bonanza». Diese Serien waren Teil einer amerikanischen Sozialisation, gegen die niemand gefeit war, und gegen die man selber nicht einmal dann ankam, als die Amis in Vietnam zu bad guys wurden.
Als Kontrast glotzte ich mit meinen Eltern samstagabends EWG («Einer wird gewinnen»). Im Gegensatz zu heute, wo jeder über die EU schimpft, war das Sendesignet mit der EU-Begleitmusik ein Highlight: Keiner durfte dann zum Kühlschrank rennen.
Die 60er waren noch nicht zu Ende, als ich mit «Bezaubernde Jeannie», dem Geist aus der Flasche, mitten in die Pubertät rutschte. Jeannie verzauberte auch mich, wenn sie aus der Flasche waberte, und ich schluckte den tumben Larry Hagman, der allerdings noch weit von seiner Boshaftigkeit von «Dallas» entfernt war. Im Nachhinein ist es erstaunlich, dass die Nasa, der Hagman angehörte, das Seelenheil bei einem orientalischen Geist suchte. Ingrid Steeger führte mich einen Schritt weiter und zeigte mir in «Klimbim» ihre nackten Brüste. Die alle vier Jahre stattfindende Fussball-WM und die wöchentliche Sportschau steckten mich so an, dass ich in einem Juniorenklub selber kicken zu müssen glaubte.
Die Liste meiner TV-Highlights reichte vom «Spengler Cup» über die «Sportschau», vom «Zischtigsclub» bis zu Lilo Wanders, von der Endlosschlaufe von «Nine Eleven» bis zur Übertragung des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker in ein Londoner Hotelzimmer. Fernsehen machte mich glücklich, machte mich traurig oder nervte mich. Aber keine Sendung band mich so eng ans Fernsehen wie die Schweizer «Tagesschau» mit der nachfolgenden Wetterfee. Der tägliche Blick auf die Schrecken der Welt wurde mir zum unabdingbaren Ritual, wovon ich mich beim nachfolgenden «Wetter» zu erholen suchte. Lange Jahre nach Jeannie gab es dann eine Wetterfee, die ihre Prognosen mit einer solchen Eleganz verkündete, dass ich sie keinen Tag mehr verpassen wollte. Ich musste aufpassen, denn Hermann Burger hatte sich in eine Tagesschausprecherin verliebt, und ein anderer Schriftstellerfreund prahlte damit, die Moderatorin einer Kindersendung zum Essen ausgeführt zu haben. Gott sei Dank wurde die Wetterfee bald Mutter und kehrte nie mehr zurück.
Über nichts habe ich mich in den letzten Jahren so sehr geärgert wie über die Landwirtschaftswelle mit ihren Bauernsendungen. In der Schweiz leben 33 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund. Wo, fragte ich unlängst in einem «Offenen Brief», tauchen sie im Fernsehen auf? Ich schlug vor, endlich eine farbige Tagesschausprecherin einzuführen. Als hätte das Wünschen geholfen, verliest seit kurzem Angélique Wälchli die Nachrichten. Mit ihr erhält die Schweiz endlich ein multikulturelles Gesicht. Wenn Angélique Wälchli Nachrichten von den Flüchtlingsdramen oder von Präsident Obama verliest, erhalten sie eine andere Dimension.
Mein gegenwärtiger Held heisst Florian Inhauser. Inhauser besticht mit jedem Auftritt durch seine präzise, ironische und intelligente Diktion. Seine Ansagen sind gespickt mit wunderbaren Neologismen wie «rosa Lusthüpfer» (für das weibliche Viagra), mit Sprachwitz, etwa wenn er sagt, dass die EU-Fans bei der SP auf die Liste der bedrohten Arten rutschen. Wenn ich könnte, würde ich mit Inhauser zum Essen ausgehen, seine Nachrichten sind ein einziges Sprachfest. Inhauser ist ein Schriftsteller ohne Werk, ein Kabarettist ohne Bühne – und ein Geschenk für meine Fernsehbiografie.
Martin R. Dean
Martin R. Dean wurde 1955 als Sohn eines Vaters aus Trinidad im aargauischen Menziken geboren. Nach einem Studium der Germanistik in Basel war er als Dozent, Gymnasiallehrer und Schriftsteller tätig. Zuletzt ist der Essayband «Verbeugung vor Spiegeln» (Jung und Jung 2015) erschienen, der für den Schweizer Buchpreis nominiert ist. Dean liest am Do, 23.10., 20.00 im Rahmen von «Zürich liest» im Literatur haus Zürich.