Die Me-too-Bewegung, die die mächtige Grundströmung der seit den 70er-Jahren aufgekommenen feministischen Emanzipationsbewegung noch einmal intensiviert, dringt in alle gesellschaftlichen Bereiche vor. Sie stellt die Frage nach der Gleichstellung der Frau auf allen Stufen und auch in den kreativen Berufen. Sind Künstlerinnen in den Museen, sind sie in den Zeitungsredaktionen, den Verlagen und den Medienhäusern angemessen vertreten? Wie ist es in der Musik, beispielsweise im Jazz?
Die Union Deutscher Jazzmusiker führt in ihrer Studie aus dem Jahre 2016 an, dass 86 Prozent der in Deutschland lebenden und arbeitenden Jazz-Instrumentalisten Männer sind. Damit konstatieren wir ein zum Himmel tönendes Ungleichgewicht der Geschlechter. Bis ins Jahr 2018 soll es in Deutschland keine Jazz-Professorin im Instrumentalbereich gegeben haben. Und warum wählen nur drei Prozent der jungen Frauen, die in Luzern Jazz studieren, das Schlagzeug? Nur acht Prozent die Trompete?
Haben Jazzinstrumente ein Geschlecht? Bis jetzt habe ich mir die Frage nie gestellt und dem Saxofon so wenig wie der E-Gitarre einen Testosteronüberschuss zugestanden. Aber instinktiv höre ich das kraftvoll Stöhnende von Coleman Hawkins’ Saxofon natürlich als Leiden an der eigenen Männlichkeit mit. Instinktiv habe ich bei Billie Holidays Stimme, die mich in den Schacht einer toxischen Biografie hinabzieht, oder beim vorabendlich verrauchten Resopaltisch-Timbre von Sidsel Endresen auch Weibliches vor Augen. Gehören also die Trompete, die Posaune, das Saxofon, das Schlagzeug, die E-Gitarre und die Bässe einer typisch männlichen Sturm- und Takttruppe an? Sind sie sozusagen Bestandteil einer männlichen Vorhut, bei der die Sidewomen bestenfalls das Sahnehäubchen in Form dekorativer Stimmengirlanden aufsetzen dürfen?
Offenbar verbinden sich instrumentelle Merkmale wie Klangfarbe, Härte, Eleganz, Anschmiegsamkeit und Lautstärke eines Instruments mit geschlechtsspezifischen Klischees, die dem gegengeschlechtlichen Studenten ein «noli me tangere» zuraunen. Fakt ist, dass der Anteil Musikerinnen bei elektronisch betriebenen Instrumenten unter der Schamgrenze liegt. Lauert dahinter die naturhistorisch verbrämte Zuweisung von weiblicher Vokalität und männlicher Affinität zum Gerät? Kurz: Ist der Jazz noch immer eine patriarchal geprägte Kunst? Ist es immer noch unpassend, als Frau mit schweisstreibender Muskelkraft auf ein Schlagzeug einzudreschen? Verbindet sich mit dem Weiblichen noch immer: Weichheit, Sanftheit, Demut, Verhaltenheit, Introvertiertheit und Sublimation, zu denen die Harfe und die Flöte besser passen als die Basstuba?
Interessant ist zu sehen, woher dieses tief sitzende Frauenbild kommt:
«Eine schöne Seele nennt man es», schreibt Friedrich Schiller in «Anmut und Würde», «wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, dass es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen.» Eine schöne Seele, womit der Klassiker zweifelsfrei die Frauen meint, hat Grazie und also Anmut, und beide Qualitäten scheinen sich nicht mit allen Jazzinstrumenten zu vertragen.
Muss der Jazz also, um die Geschlechter auf Augen- oder eben Ohrhöhe zu bringen, zuerst das klassische Frauenbild der «stillen Einfalt und edlen Grösse» überwinden? Das dazu führte, dass Mann Frau aufgrund dieser auf sie projizierten Eigenschaften nicht zutraute, herausragende Schlagzeugerinnen oder Saxofonistinnen zu sein? So wenig wie Mann früher Pilotinnen zutraute, einen Jumbojet sicher ins Ziel zu bringen. Oder einem Schwarzen, Präsident der Vereinigten Staaten zu sein. Vorurteile funktionieren über Zirkelschlüsse: Man beurteilt jemanden nach dem, was man auf ihn projiziert.
Bei der Ausbildung zum Jazzmusiker rangieren die Frauen in der Schweiz bei 11 Prozent, davon sind 55 Prozent Sängerinnen. Es gibt in der Schweiz kaum Dozentinnen an Jazzschulen und nur wenig Frauen in Prüfungskommissionen. Und es fehlt an «role models» wie Annie Whitehead, Carla Bley, Barbara Thompson oder Maria Schneider. Auch Bigbands sehen heute noch immer aus wie eine Fussballelf mit Ersatzbank.
Aber wie fühlt man sich als Frau unter Männern?
Als Vertreter einer anderen, nämlich ethnischen Minderheit – ich gehöre zu den rund 30 Prozent Schweizerinnen und Schweizern mit Migrationshintergrund – fühle ich mich bedeutend besser, wenn ich in einem Raum, einer Versammlung, in einer Mannschaft etc. nicht der einzige Nichtbioschweizer bin. Wie verkrampft, wie machohaft und auf ewige Konkurrenzspielchen versessen reine Männergruppen unter sich sein können, weiss jeder. Da wirkt ein Tropfen Weiblichkeit wie ein Bitter im Drink: humanisierend, geschmackvoll und entspannend.
Es geht aber letztlich nicht nur um mehr Jazzinstrumentalistinnen, um mehr «Powerfrauen» und mehr «geniale Sidewomen» und wie die schönen Euphemismen alle heissen. Es geht, wie könnte es im Jazz anders sein, um die kräftige, vitaminreiche und subversive Durchmischung. Um das Crossover von Melodien, Klangfarben, Modulationen und Phrasierungen. Der Fortschritt zu reinen Frauenformationen, reinen Frauenbigbands und rein weiblichen Jurys wäre nur ein halber. Der wahre Fortschritt liegt in der Durchmischung, der Fusion des Weiblichen mit dem Männlichen. Dann stünde der Jazz wieder für das, was er wie keine andere Musikgattung musikalisch ausdrückt: für Freiheit und Fantasie.
Martin R. Dean
Martin R. Dean wurde 1955 im aargauischen Menziken als Sohn einer Schweizerin und eines Inders geboren. Nach seinem Studienabschluss unternahm Dean lange Reisen und ist seit 1986 als Schriftsteller und Essayist tätig. Zuletzt ist sein Roman «Warum wir zusammen sind» (Jung und Jung, 2019) erschienen. Martin R. Dean lebt in Basel.
www.mrdean.ch