kulturtipp: Martin Engstroem, war es nicht verrückt, ausgerechnet in Verbier, einem Skiort auf 1600 Meter, in einer Sackgasse, ein Klassikfestival zu gründen?
Martin Engstroem: Ein Wahnsinn. Ich setzte alles auf eine Karte, mobilisierte all meine Freunde: Das erste Konzert dirigierte Zubin Mehta, David Garret war der Solist. Das zweite spielte Evgeny Kissin, das dritte Mischa Maisky und Maxim Vengerov. Neben diesen Stars sollte aber ein Jugendorchester im Zentrum stehen.
Machte das Publikum von Beginn weg so begeistert mit wie heute?
Die Leute waren skeptisch: Zubin Mehta in Verbier? Wo sollte er denn dirigieren und welches Orchester? Immerhin verkauften wir im ersten Jahr 7000 Karten.
Verbier ist ein magischer Ort mit Tücken: Es gibt keinen Konzertsaal, nicht mal eine schöne Kirche.
Ihre Akustik ist immerhin gut, und wir haben dort die ideale Anzahl Plätze für Kammermusik. Der Charme eines Festivals hängt stark davon ab, wie anders man Musik begegnet als in der Saison.
Die «andere Begegnung» findet seit 1994 im Zelt statt.
Es ist ein Auditorium, «Zelt» klingt so hart, tönt nach Bier oder Zirkus. Auf Französisch sagt man Chapiteau. Die Musiker – und schliesslich das Publikum – kamen trotzdem. Aber klar: Es war jedes Mal eine Katastrophe, wenn ein Gewitter losbrach und der Regen aufs Dach prasselte. Das Auditorium gehört zur lockeren Atmosphäre des Festivals, es hat seinen eigenen Charme.
Die Flut an Stars ist unheimlich. Wie schaffen Sie es, Anne-Sophie Mutter, Anna Netrebko, Martha Argerich und andere nach Verbier zu bringen?
Es ist dieser Effekt: Der tritt da auf, jetzt gehe ich auch hin! Man weiss, wie hoch das Niveau ist, weiss, dass die Welt im Internet zuschaut – letztes Jahr waren es 1,1 Millionen Zuschauer. Ich hole von jedem das heraus, was ich in ihm sehe. Anstatt ein Rezital zum x-ten Mal aufzuführen, soll der Musiker hier Duos, Trios und Quartette spielen. Er akzeptiert, dass er dafür weniger Gage kriegt …
… aber mehr arbeiten muss.
(lächelt) Hier kann man viel schuften für wenig Geld, aber künstlerisch soll der Aufenthalt das Nonplusultra sein. Jeder kriegt spannende Partner. Ich brachte Martha Argerich dazu, Kammermusikstücke zu spielen, die sie sonst nie angerührt hätte. Sie biss auf die Zähne – und sie wurde hier neuen Musikern vorgestellt: Vadim Repin, Nigel Kennedy oder Gil Shaham. Sie hätte mit denen wohl nie gearbeitet, jetzt sind es ihre Freunde.
Man sagt, dass Ihre Gagen tiefer als übliche Spitzengagen sind. Anne-Sophie Mutter spielt doch anderswo nicht mal für die «normale» Spitzengage.
Anne-Sophie spielt bei mir umsonst. Ihre Gage geht an ihre Stiftung. Sie spielt für mich. Das wenige Geld ist ihr egal.
Aber es können ja nicht alle für Sie spielen. Anna Netrebko, Bryn Terfel, Vadim Repin, Valery Gergiev …
Anna Netrebko habe ich für die Deutsche Grammophon unter Vertrag genommen. Mit Bryn Terfel waren wir mit unserem UBS-Orchester auf Asien-Tournee, wir haben uns bestens verstanden. Er ist der Prototyp eines Künstlers, der nach Verbier passt. Er arbeitet auf seiner walisischen Farm, liebt die Natur. So einer mag die Atmosphäre bei uns.
Junge Künstler wie Lang Lang, Yuja Wang oder Kathia Buniatishvili, die in Verbier auftraten, hatten immer wieder mal kurze Zeit später einen wichtigen Plattenvertrag. Wie geht das?
Ich kenne alle Plattenproduzenten, locke sie geradezu nach Verbier. Hier hörten sie Yuja Wang, und alle wollten die Chinesin unter Vertrag haben. Noch in Verbier wurde der Vertrag mit der Deutschen Grammophon unterzeichnet. Das ist Verbier! Hier erlebt man eine Schar von Talenten, deswegen kommen, böse gesagt, die «Einkäufer». Es ist spannend, diese Talente zu suchen: Ich erhalte Informationen aus New York und London und weiss, wer auf dem Markt ist.
… oder auf den Markt sollte!
Na gut. Aber ich habe einige Leute, denen ich vertraue, denen ich Geschmack zutraue. Es war immer meine Passion, Talente zu erkennen: «Du, und nicht du!» Nächste Woche fahre ich nach St. Petersburg zum Tschaikowski-Wettbewerb, da sitze ich zwei Wochen in der Jury. Ich bin auch Präsident des Clara-Haskil-Wettbewerbs. Letzte Woche haben wir 97 Pianisten zugehört, 25 davon ausgesucht. Ich versuche, mein Ohr weiterhin zu trainieren. Das Spezielle zu identifizieren, macht mir unheimlich Spass.