kulturtipp: Sie stellten 1994 auf 1700 Metern Höhe, in einem Skiort mit schlechtem Ruf, ein Zelt hin. Damit gründeten Sie das Verbier Festival.
Martin Engstroem: Ich habe es mir nicht einfach gemacht. Vor kurzem stiess ich in einem Notizheft auf das Festival-Konzept vom Oktober 1991 und sah, dass heute alles haargenau erfüllt ist, auch wenn das Festival zehn Mal grösser wurde als im Startjahr. Ich wusste: In Verbier kann ich alles umsetzen, was in meinem Kopf ist.
Alles sprach gegen Sie.
Aber da war die Vision! Ich sagte mir, wer hierherkommt, will Teil eines grossen Ganzen sein. Für die jüngeren Solisten ist Verbier heute mit grossen Hoffnungen verbunden. Es ist für viele ein Sprungbrett geworden. Ich lud die Schallplattenfirmen, Agenten und Intendanten ein, versuchte, eine Plattform der Begegnung aufzubauen. Die Pianistin Yuja Wang meint, sie könne mir nicht genug oft sagen, wie wichtig Verbier für sie gewesen sei: «Ich habe meinen Vertrag mit der Deutschen Grammophon hier erhalten. Ich habe meinen Vertrag mit Rolex hier erhalten. Verbier war mein Anfang.»
Das Festival hat heute ein Budget von über zehn Millionen Franken. Aber im Prinzip war bereits im ersten Jahr alles realisiert.
Mir war klar, dass kein Musiker nur für ein Konzert kommen würde. Das lohnt sich für ihn nicht. Umso mehr konnte ich mit denen, die länger kamen, etwas Spezielles gestalten. Yuja Wang bleibt diesen Sommer zwölf Tage, der Pianist Evgeny Kissin zwei Wochen, der Violinist Leonidas Kavakos spielt fünf Konzerte. Wir sind wie eine Familie – zusammen mit dem Publikum: Die Gemeinde erhält 32 Millionen Einnahmen dank dem Festival. Die vielen jungen Talente, die ich hole, haben fast alle in den Teenager-Jahren eine Karriere begonnen, lebten in einer Welt, in der jeder zweimal so alt war wie sie. Und dann kommen sie nach Verbier und fangen an, jung und normal zu leben: Lang Lang und Kissin waren hier zum ersten Mal im Leben in einer Diskothek. Es gibt eine ganze Reihe von jungen Musikern, die hier wieder zu Jugendlichen wurden und das auslebten.
Warum spielen Künstler in Verbier andere Werke als anderswo und treten in ungewohnten Besetzungen auf?
Weil ich es möchte. Meine Musiker sollen nicht mit ihrem Tournee-Programm nach Verbier kommen. Ein grosser Solist kann auch in einem Trio, dann mit einem Sänger, schliesslich mit Orchester spielen. Die Begegnung, der Prozess, ist mir manchmal wichtiger als das Resultat. Als Martha Argerich einst auf Verbier angesprochen wurde, sagte sie: «Das ist so ein Festival, wo wir alle etwas Neues lernen und mit Leuten spielen, mit denen wir noch nie gespielt haben.»
Man arbeitet viel und bekommt wenig Geld …
Tatsächlich beträgt die Höchstgage nur 12 000 Franken. Auch für fünf Konzerte kriegt einer nur 12 000 Franken. Doch gerade Martha lernte trotzdem für Verbier ein riesiges Repertoire, spielte hier nach Jahren wieder Brahms. Sie trat mit den Geigern Vadim Repin und Nigel Kennedy sowie dem Klavierspieler Evgeny Kissin auf.
Gibt es einen Künstler, den Sie seit Jahren anfragen und der doch nicht kommt?
Cecilia Bartoli würde ich gerne haben, sie ist eine neugierige Künstlerin mit vielen Interessen. Ich versuchte, sie mit Kissin zusammenzusetzen. Wir suchten ein Repertoire, aber es wurde nichts daraus.
Bartoli im riesigen Zelt?
Es gibt auch die Kirche. Warum nicht? Mein Motto ist: «Lass die anderen Nein sagen.» Ich frage Frau Bartoli auch an, wenn ich weiss, dass sie hohe Gagen verlangt. Erst sage ich, was ich vorhabe, was ich mir vorstelle, und warum ich sie mit wem zusammen sehe. Es ist einfacher geworden nach 25 Jahren: Man kennt die Verhältnisse – positiv oder negativ. Die Gründe, warum einer kommt, müssen künstlerisch sein. Aber klar: Warum soll Bartoli in Verbier für 12 000 Franken singen …
… wenn sie anderswo 100 000 kriegt.
Genau. Aber ich respektiere das.
Einer Ihrer Hauptgeldgeber ist die Neva-Stiftung des Oligarchen Gennadi Timtschenko, der auf der Sanktionsliste der USA steht und auch nicht mehr nach Europa reisen darf.
Sie dürfen nicht nur das Negative sehen. Es gibt immer mehr Festivals, immer mehr Leute, die Geld brauchen. Aber es gibt weniger Quellen. Einen neuen Sponsor muss man prüfen, ich und mein Stiftungsrat haben auch schon Sponsoren abgelehnt.
Sie haben kein ungutes Gefühl, dass die Neva-Stiftung dem Festival Geld aus einem Staat gibt, wo nicht alles nach demokratischen Grundregeln läuft?
Sie dürfen nicht alle Russen über denselben Kamm scheren. In meiner Situation wären Sie wohl auch froh, wenn Sie überhaupt einen Sponsor finden würden. Es gibt Chinesen und Amerikaner, die wahnsinnige Reichtümer haben. Mit sauberen Methoden erhalten? Kein Russe kommt mit einer Tasche Geld nach Verbier. Im künstlerischen Feld schreibt mir niemand vor, dass ich diesen oder jenen Solisten einladen soll. Man macht vielleicht Andeutungen, mehr aber nicht. Politisch gesehen habe ich keinen Fehler gemacht.
Martin Engstroem
Der Musikliebhaber wurde 1953 in Stockholm geboren. 1975 ging er nach Paris und arbeitete als Künstleragent, beriet Musikinstitutionen und Musiker. 1994 gründete Engstroem das Verbier Festival und hatte bald auch eine wichtige Position bei der Deutschen Grammophon inne, wovon das Festival sehr profitierte.
Die Basis des Festivals ist eine riesige Academy für junge Künstler, das Festival Orchestra und das Verbier Festival Chamber Orchestra werden daraus gebildet. 2018 feiert man 25 Jahre Verbier Festival, es gibt 61 Konzerte. Ein Verbier-Tag besteht aus Abendkonzerten, Workshops, offenen Proben, Meisterkursen, Kammerkonzerten, Matinees und Jugendkonzerten. Am Abend finden das Sinfoniekonzert im Zelt und in der Kirche ein Liederabend oder Kammerkonzert statt.
Verbier Festival
Do, 19.7.–So, 5.8.
www.verbierfestival.com