Ein moderner Heimatroman? In diese Schublade wurde Mariann Bühlers Debüt «Verschiebung im Gestein» in den letzten Wochen oft gesteckt. «Wenn die Heimat als Ort gesehen wird, wo man so werden kann, wie man sein möchte, dann passt die Definition», sagt sie lachend und tischt in ihrem Basler Literaturbüro mit «Weitblick und Industriecharme» Kaffee auf. Ihr Blick schweift über die Fabrik vor dem Fenster, wo unablässig eine weisse Wolke aus dem Kamin steigt.
Die 42-Jährige ist auf einem Bauernhof bei Luzern aufgewachsen, lebt aber seit über 20 Jahren in Basel. Für ihren Roman, der auf dem Land spielt, greift sie auch auf Erinnerungen zurück: «Ich weiss, wie es in einem Stall tönt und riecht und wie es sich anfühlt, wenn grosse Tiere im Raum stehen.» Diese Erfahrungen scheinen in den sinnlichen Beschreibungen im Roman durch, dem ruhigen Eintauchen in Tätigkeiten wie Stallarbeit, Brotbacken oder Holzhacken.
Drei knorrige Figuren auf der Suche nach sich selbst
Wer nun aber an eine Landidylle denkt, liegt nicht ganz richtig. Mariann Bühler erzählt von drei knorrigen Figuren, die den eng gesetzten Grenzen im Dorf entfliehen möchten. Die Bäckerin Elisabeth, der Bauer Alois und die junge Frau, die noch einmal ins Dorf ihrer Kindheit zurückkehrt, verbindet ihre Suche nach sich selbst, nach dem eigenen Wesenskern. Wie bei den Verschiebungen im Gestein, welche die Autorin in kurzen Zwischenkapiteln in poetischen Bildern beschreibt, finden auch bei den drei Figuren ganz langsam innere Veränderungen statt.
Sieben Jahre lang hat Mariann Bühler ihren Text reifen lassen, ist für ihre Recherche etwa in ein Tessiner Tal gereist, das in einer geologischen Störungszone liegt, und hat sich diese von einem Geophysiker erklären lassen – und in der Geologie die Poesie entdeckt. Schliesslich hat sie alles «verknappt und eingekocht», wie sie sagt.
Als Veranstalterin im Literaturhaus Basel oder als Initiantin der beliebten «Sofalesungen» kennt sie den Literaturbetrieb. Lange war sie aber unsicher, ob sie mit ihren eigenen Texten an die Öffentlichkeit will.
Der Mut hat sich gelohnt – ihr Debüt wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. «Da war kein klarer Gedanke mehr!», erinnert sie sich an den Moment, als sie davon erfuhr. Gerade als Literaturvermittlerin weiss sie, wie viele gute Bücher unter dem Radar bleiben, und sie freut sich umso mehr über die unverhoffte Aufmerksamkeit.
Vor Kurzem hat sie an der Frankfurter Buchmesse mit Autorin Gianna Molinari eine Bühne für Schweizer Literatur kuratiert, und nun gehts mit den anderen Buchpreis-Nominierten weiter ans Festival BuchBasel. Fürs Schreiben in ihrem Literaturbüro bleibt momentan nicht viel Zeit. Aber sie recherchiere für ein neues Buch, verrät sie: «Es gärt bereits wieder.»
Mariann Bühler
Verschiebung im Gestein
208 Seiten
(Atlantis 2024)
Mariann Bühlers Kulturtipps
Film
Kelly Reichardt: First Cow (2020)
«Ein Western, der keiner ist, und eine wunderschöne Geschichte über eine Freundschaft. Und wie alle Filme der Regisseurin Kelly Reichardt äusserst empfehlenswert.»
Buch
Esther Kinsky: Rombo
(Suhrkamp 2022)
«Esther Kinsky verwandelt die Geschichte von zwei Erdbeben im Friaul und umfangreiche
Recherchen in Sprachkunst, die mich schaudern lässt beim Lesen.»
Serie
Deadloch (Amazon Prime)
«Eine australische Krimikomödie, die Stereotype aller Art kunstvoll in die Pfanne haut. Die Figuren sind so kurios wie liebenswert, die Geschichte immer wieder zum Schreien komisch.»