Sehr lange, schon seit meinen Grundschulzeiten, schlug mir meine Mutter immer wieder vor, über die Wüste zu schreiben. Ich weiss bis heute nicht, wie gut sich meine Mutter mit Wüsten auskennt; ich glaube, ihr Wissen beruht hauptsächlich auf Wilhelm Hauffs Märchen «Die Karawane», das meine Mutter meinem Bruder und mir vorlas, als wir klein waren. Meine Mutter war eine hingebungsvolle Vorleserin. Die Karawane zog durch unser Kinderzimmer, plötzlich gab es Säbelrasseln, unendliche Weiten, Kamele, ehrenhafte Herren der Wüste, Sternen- und Paillettenglitzer mitten in Nordrhein-Westfalen. Meiner Mutter gefiel das alles sehr, und ich glaube, sie war auch ein bisschen in Hauffs Räuber Orbasan verliebt – aber vor allem, glaube ich, liebt sie an der Wüste das mutmassliche, weite Nichts.
Das Einzige, was ich ganz sicher über die Wüste weiss, ist, dass sie nichts mit dem Leben meiner Mutter zu tun hat. Das Leben meiner Mutter ist sehr gut bewässert, ständig gibt es Wasserrohrbrüche. In ihrem Leben wogen keine Kamele umher, es gibt nur schadhafte Hunde, und soweit ich weiss, trägt niemand im Leben meiner Mutter ein Kurzschwert, die meisten tragen Lesebrillen. Es gibt auch keine nomadischen Zeltbauten, sondern ein Haus, das sich in seinen 108 Jahren nicht einen einzigen Zentimeter von der Stelle bewegt hat.
Das Leben meiner Mutter ist auch nicht wüstenlandschaftlich karg. Im Gegenteil. Meine Mutter ist umzingelt von Hinterlassenschaften, überall stösst man auf und gegen Kisten, die bei meiner Mutter untergestellt wurden, weil ihre Besitzer gestorben oder aus anderen Gründen ausgezogen sind. Das Leben meiner Mutter ist zudem sehr unstill. Andauernd kommt jemand herein, der Handwerker zum Beispiel, der auf das Dach des Hauses zeigt und sagt: «Es tut mir leid, aber das muss alles ausgebessert werden.» Nachts kommen Fragen herein, zum Beispiel die, ob wirklich alles ausgebessert werden muss. Oder warum man es nie in die Wüste geschafft hat, wo es kein Dach gibt, wo der Blick nirgendwo verstellt wird, schon gar nicht von Hinterlassenschaften.
«Schreib doch mal über die Wüste», sagte meine Mutter, als ich acht Jahre alt war und in die Küche kam, um ihr den Aufsatz «Mein schönstes Ferienerlebnis» vorzutragen. Ich hatte, was meine Lesungen anging, kein gutes Gespür für den richtigen Moment. Meine Mutter ging seit Stunden um den Küchentisch herum und versuchte, meinem vernagelten Cousin anhand einer Kassettenhülle – Tina Turner, «Greatest Hits» – die Volumenberechnung eines Quaders nahezubringen (meine Mutter hat ihre gesamte schulpflichtige Verwandtschaft durch das Matheabitur gezogen, geschoben und geschubst). Neben dem Tisch stand der Handwerker, der meiner Mutter die Rechnung für ausgebesserte Wasserrohre nahezubringen versuchte, und der damalige Hund, der Magengeschichten hatte, erbrach sich auf die riesigen Handwerkersicherheitsschuhe. In dieses Szenario trug ich mein schönstes Ferienerlebnis vor. Alle, auch der Hund, schauten mich verständnislos an, und meine Mutter sagte: «Schön, aber schreib doch mal über die Wüste.» Dass wir die Ferien in der unkargen Eifel verbracht hatten, war für sie kein Argument.
«Schreib doch mal über die Wüste», sagte meine Mutter, als ich ihr meine ersten Gedichte vortrug. Gedichte schreiben war mit 14 Jahren sehr einfach: Man spürte irgendwas, schrieb es in sein Tagebuch, friemelte ein paar Zeilenbrüche hinein und machte hinten keinen Punkt. Als ich mich zur Deklamation entschloss, saugte meine Mutter gerade mit dem Staubsauger Miniermotten vom Kastanienbaum. Dabei hörte sie Tina Turner, sie hatte die Musik laut aufgedreht, um den Staubsauger zu übertönen. Neben ihr stand der Handwerker, um ihr die Brandschutzauflagen vorzutragen. Der Handwerker und ich trugen Auflagen und Gedichte sehr laut vor, um den Staubsauger und Tina Turner zu übertönen, ich glaube nicht, dass uns das gelungen ist. «Schön», brüllte meine Mutter, «aber schreib doch mal was über die Wüste», und dann drehte sie Tina Turner noch ein bisschen lauter.
Jetzt, Jahrzehnte später, sitze ich neben meiner Mutter in ihrem Keller. Wir sind über die Kisten mit Hinterlassenschaften geklettert, einige haben wir aussortiert. Jetzt machen wir Pause. Meine Mutter hat noch Sägespäne in den Haaren. Heute Morgen ist der Kastanienbaum gefällt worden. Er war so alt wie das Haus, 108 Jahre, er war schütter und schwach, und als er fiel, schrie meine Mutter auf.
Der Handwerker kommt herein, und bevor er etwas über das Dach oder über sonst etwas Schütteres sagen kann, sagt meine Mutter: «Setzen Sie sich doch zu uns.» Der Handwerker setzt sich. Er ist ebenfalls etwas schütter geworden. Ich weiss nicht, wann er eigentlich angekommen ist – wahrscheinlich vor 108 Jahren.
«Man muss auch einfach mal so dasitzen können», sagt meine Mutter. Wir schauen sie an. «Alte Altersweisheit», sagt sie.
Wir betrachten die Kistenlandschaft und schauen zu, wie an den Leerstellen, wo die aussortierten Kisten gestanden haben, jeweils zwei neue Kisten nachwachsen.
Meine Mutter lehnt den Kopf an meine Schulter, sie riecht nach einer hervorragenden Mischung aus Instantkaffee und Holz. Sehr lange hat sie mir nicht mehr vorgeschlagen, etwas über die Wüste zu schreiben, das ist beunruhigend; ich weiss nicht, wen oder was meine Mutter aufgegeben hat, die Wüste oder mich. Ich beschliesse, meiner Mutter die Wüste aufzuschreiben, endlich, vielleicht mit Tina Turner als Räuber Orbasan und mit sonst niemandem darin. Eine ganze Wüste werde ich meiner Mutter aufschreiben, neun Millionen Quadratkilometer weites Nichts.
Mariana Leky
Die deutsche Autorin (*1973) studierte nach einer Buchhandelslehre Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit 2001 ist sie alsSchriftstellerin tätig. 2017 veröffentlichte sie den Bestsellerroman «Was man von hier aus sehen kann», der in über 20 Sprachen übersetzt wurde – in Planung ist zudem ein Kinofilm. Die Autorin lebt in Berlin. Im Frühling ist Mariana Leky als Literaturresidentin zu Gast im Luzerner Hotel Beau Séjour.