Ob ihr bewusst sei, dass sie als Erste den Schweizer Kurzfilm-Oscarfluch gebrochen habe. «Ich hatte tatsächlich etwas Angst», sagt Maria Brendle. Der kulturtipp trifft die in Zürich wohnhafte deutsche Regisseurin in einem Bistro am Zürcher Bellevue – im Aussenbereich, in Fell und Decken gepackt, da man drinnen sein eigenes Wort kaum versteht.
2022 wars, als Brendle, die an der Zürcher Hochschule der Künste studiert hat, mit ihrem Kurzfilm «Ala Kachuu – Take and Run» über den kirgisischen Brauch der Frauenentführung für einen Oscar nominiert wurde. Im Unterschied zu anderen Schweizer Nominierten, die nicht an solche Erfolge anknüpfen konnten, legt sie nun mit «Friedas Fall» rasch ein abendfüllendes Werk nach, das auf den ersten Blick weit von ihrem Kurzfilm entfernt scheint.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich indes: So verschieden sind die Themen nicht. «Friedas Fall» dreht sich um den Fall der Kindsmörderin Frieda Keller, die 1904 in St. Gallen zum Tode verurteilt wurde. «Es geht auch da um den unterdrückten Status der Frau in einem Männerregime», bestätigt Brendle. Die Gesellschaft habe die vergewaltigte junge Mutter im Stich gelassen. Das wird im Film spürbar. Was Gesetz ist, bestimmt die Obrigkeit – und das wiederum mobilisierte die Schweizer Frauenbewegungen.
«Friedas Fall» – eine filmische Erschütterung
«Friedas Fall» basiert auf dem Roman «Die Verlorene» von Michèle Minelli, die mit Robert Buchschwenter das Drehbuch schrieb. Brendle stieg danach in dieses privat und von öffentlicher Hand finanzierte Projekt ein und überarbeitete es. «Gerade in Bezug auf die Frauenfiguren.» Brendle erkärt: «Ich wollte vermeiden, dass Männer nur gut und Frauen nur böse sind.» Wo bleibt etwa bei der verräterischen Beziehung zwischen Frieda und ihrer Schwester Bertha (Liliane Amuat) die Frauensolidarität? «Jemand hat mal gesagt: Frauen sind die grössten Fans von Frauen – oder sie sind die ärgsten Feinde. Da können wir uns noch verbessern.»
Und wie war die Arbeit mit Schauspielerin Julia Buchmann, die in «Friedas Fall» ihr Debüt als Hauptdarstellerin gibt? «Dass sie mir das Vertrauen geschenkt hat, so nahe ranzugehen, bedeutet mir viel. Julia hat wenig Sprechtext, muss viel mit sich im Stillen ausmachen. Wir haben diese Szenen bis ins Detail choreografiert, und Julia hat das grossartig gemacht. Ich bin wirklich ihr grösster Fan.» Das Resultat lässt dennoch Fragen offen.
«Friedas Fall» ist eine filmische Erschütterung, bei der man nie weiss, wie viel Opfer und wie viel Täterin in dieser Kindsmörderin steckt. «Der Film soll ein Abwägen auslösen», bestätigt Brendle. Klar ist: «Frieda war ein Opfer ihrer Zeit, aber auch zu einer unvorstellbaren Tat in der Lage.» Es fröstelt einen – trotz Fell und Decken draussen am Zürcher Bellevue.
Friedas Fall
Regie: Maria Brendle
CH 2024, 107 Minuten
Ab Do, 23.1., im Kino
Maria Brendles Kulturtipps
Film
Sean Baker: Anora (2024)
«Mikey Madison glänzt als charismatische Sexarbeiterin in einer modernen und erfrischenden Pretty-Woman-Geschichte. Ein Film, der mit Charme und Humor begeistert.»
Film
Nora Fingscheidt:
The Outrun (2024)
«Der Film basiert auf Amy Liptrots Memoiren und beeindruckt mit einem starken Drehbuch, exzellenter Regie und einer grossartigen visuellen und klanglichen Gestaltung. Saoirse Ronan verkörpert den Kampf gegen Alkoholsucht mit authentischer Intensität.»
Buch
Julie Clark: Der Tausch
(Heyne 2021)
«Zwei Frauen auf der Flucht und eine Geschichte voller überraschender Wendungen machen diesen Krimi zu einem Pageturner. Eine fesselnde und unterhaltsame Suche nach der Wahrheit.»