Manchmal hat man Lust, sich richtig zu ärgern. Dann hilft ein Blick auf die Bestsellerlisten. Klar weiss ich, dass sie nicht das Beste widerspiegeln, sondern nur das Bestverkaufte. Doch genau darum geht es hier. Beginnen wir mit der Belletristik. Fast die Hälfte aller Plätze besetzen Krimis – reine Zeit-Totschlag-Lektüre also. Den Rest füllen übersetzte internationale Bestseller und literarischer Fast Food. Wer zum guten Buch kommen will, muss anderswo suchen. Doch wo? Die im Feuilleton hochgelobte Sensation legt man nach 20 Seiten ernüchtert zur Seite. Und dies mit der beschämenden Erkenntnis: Offenbar bin ich zu dumm dafür. Oder, grimmiger: Wieder mal ein Kulturschaffender, der sich mit seinem verstiegenen Fundstück in der eigenen Blase, bei den Kollegen, profilieren wollte. Ebenso monoton ist die Sachbuchliste. Zwar sorgt der Ukraine-Krieg mit Politstudien und Krisentipps kurzfristig für etwas Abwechslung. Das freilich vertreibt die Dauergäste nicht von ihren Stammplätzen. Es sind die Film-, Bühnen- und Fernsehpromis mit ihren Lebenseinsichten, egal, wie viel Konfektionsware und Kraut-und-Rüben- Prosa darunter ist. Und es sind die noch zahlreicheren Ratgeber. Es gibt sie für alles und jedes, von der Ernährungsfibel bis zur Lebenslehre, und allesamt sind sie eigentliche Fitnesslektionen für den Narzissmus jeglicher Ausprägung. Erst jetzt erfahren ihre Leser und Leserinnen, wie spannend und interessant die eigene Persönlichkeit ist. Nur logisch, dass ihnen überall der Platz ganz oben zusteht. Dass ihnen im grossen Stück des Lebens die Hauptrolle gebührt und der Rest der Welt nur dazu da ist, um ihnen zu applaudieren. Das könnte uns eigentlich gleich sein. Liefen uns die derart Selbstoptimierten nicht auf Schritt und Tritt über den Weg. Und dies buchstäblich. Panzern gleich, den Blick in die Ferne gerichtet, bahnen sie sich auf dem Trottoir ihren Weg, egal, wer oder was ihnen entgegenkommt. Jede Begegnung wird zum Zweikampf. Verlierer ist, wer in letzter Sekunde als Erster mit einer blitzschnellen Drehung dem drohenden Crash ausweicht. Besteht die Ego-Kampftruppe aus zwei und mehr Einheiten, hilft nur das rechtzeitige Wegducken in die Büsche. Die permanente Innenschau der Ratgeber lässt auch den Verdauungstrakt in neuem Licht erscheinen. Opfer sind alle Gastgeberinnen und Gastgeber. Früher fragten sie bei Einladungen: Fleisch oder Vegi? Heute tun sie gut daran, sich auch nach Glu- kose-, Laktose- und Histaminintoleranz und Allergien ganz allgemein zu erkundigen. Im Restaurant gleicht die mit chemischen Begriffen gespickte Speisekarte inzwischen einem Laborbericht. Wendet sich der Gast, wie auf dem Menu empfohlen, für weiterführende Erklärungen an das Servierpersonal, hört die Tischrunde ein Arzt-Patienten- Gespräch mit, in dem selbst heikelste Verdauungsprobleme nicht ausgespart werden. Zwar ergab eine wissenschaftliche Untersuchung, dass nur 2 Prozent der Bevölkerung wirklich unter einer Nahrungs- mittelintoleranz leiden. Betroffen aber fühlen sich heute 20 Prozent. Besonders Ratgeber-empfänglich sind wir Frauen. Denn wer von uns fühlt sich nicht von Natur aus defizitär? Hochwillkommen deshalb, wenn uns ein Bestseller versichert: «Du bist mehr als nur gut genug.» Zwar ahnten wir das schon lange. Doch jetzt ist es offiziell: Wir sind mehr als nur gut genug für diesen Partner, diesen Job, dieses Amt. Und wir sind mehr als nur gut genug in unserer Rolle als Mutter. Jetzt ist uns egal, wenn der Jüngste in der Schalterhalle, im Supermarkt oder Restaurant brüllt, dass die anderen ihr eigenes Wort nicht mehr verstehen. Der Anlass ist nicht mehr auszumachen. Vielleicht war es ein verweigerter Schokoriegel, vielleicht brüllt das Kind auch ganz einfach, weil es so schön von der Decke zurückhallt. Was solls. Wir blicken keineswegs entschuldigend, gequält oder gar schuldbewusst. Wir machen auch nicht die geringsten Anstalten, das Kind zu beruhigen. Ja, in unseren Augenwinkeln nistet sogar so etwas wie Triumph über die akustische Leistung unseres Nachwuchses. Königsdisziplin unter den Ratgebern sind natürlich die grossen Welterklärer. Angeführt wird das Genre vom deutschen Philosophen Richard David Precht («Freiheit für alle») und vom Israeli Yuval Harari («21 Lektionen für das 21. Jahrhundert»). Seit Jahren drehen sie die grossen, alten Denker immer aufs Neue durch den Fleischwolf und machen daraus handliche Plätzchen für den Take-away- Service. Ihr Zielpublikum sind Menschen, die das diffuse Gefühl quält: Zwar haben sie alles, trotzdem ist da dieses unbestimmte Gefühl eines Mankos … Also eigentlich: wir alle. Kein Wunder, gehen die Auflagen ihrer Quick-fix-Rezepte durch die Decke. Danach braucht der Leser und die Leserin keine eigenen, vielleicht sogar schmerzlichen Erfahrungen mehr zu machen. Sie wissen schon alles. Der Lebenssinn ist geknackt, das Welträtsel gelöst. Letzteres keineswegs nur bei Reizfragen wie Feminismus, Migrationspolitik oder Klimawandel. Bei jedem Thema und jeder Gelegenheit führen sie ihre gelassene Überlegenheit vor und blockieren mit ihren Standardsätzen jede Diskussion. Manchmal lassen sie auch, ein wissendes Lächeln auf ihren Lippen, den Gesprächspartner erst ruhig ausreden und stellen erst danach die Sache richtig. Widerrede zwecklos. Inzwischen kann man den Besserwissern nirgendwo mehr ausweichen. Überall sind die Meinungen schon gemacht: an Sitzungen, in der Tischrunde, auf dem Kinderspielplatz, in der Fernsehdiskussion. Übertrieben? Dann bitte: Wann haben Sie das letzte Mal erlebt, dass jemand in einer Debatte gegnerische Ideen aufnimmt und weiterspinnt? Vielleicht gar eigene Zweifel, Unsicherheit oder Ängste äussert? Er könnte gerade so gut öffentlich Konkurs anmelden.
Margrit Sprecher
Margrit Sprecher wurde 1936 in Chur geboren und arbeitete nach ihrer Ausbildung zur Dolmetscherin 15 Jahre lang für die «Elle», bevor sie 1983 zur «Weltwoche » wechselte. Seit 2003 ist sie als freie Journalistin tätig und veröffentlicht u. a. in der «NZZ am Sonntag», im «NZZ Folio», in «Reportagen » oder «Die Zeit». Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Egon-Erwin-Kisch- Preis und 2016 den Graffenried Lifetime Achieve- ment Award für ihr Le- benswerk. 2020 ist ihr Reportageband «Irrland» (Dörlemann) erschienen. Margrit Sprecher lebt in Zürich.