An diesem Morgen könnte Margrit Sprechers Esstisch auch die Festbank eines Bergrestaurants sein. Die Journalistin hat ein Fenster ihrer Zürcher Altbauwohnung weit aufgerissen. Von der Wiese gegenüber bimmeln Glocken von Schafen in den ersten Stock hinauf. Erfrischend zieht der Wind herein. Der Blick auf die Albis-Kette verscheucht Gefühle der Enge, welche die Corona-Wochen hinterlassen haben. «Nur fürs Schreiben ist die Ferienstimmung nicht förderlich», sagt Sprecher und lacht.
Sie, die für Reportagen die halbe Welt bereiste, hat sich wenig an der Quarantäne gestört. «Ich arbeite seit 20 Jahren im Home-Office.» Zudem hatte sie zwei Aufträge, an denen sie gut von zu Hause aus schreiben konnte. Etwa den Text für die «NZZ am Sonntag» über das irische Cottage, in dem sie in den letzten 18 Jahren viel Zeit verbrachte. «Da musste ich nur im inneren Archiv schauen.» Gedanken über die Corona-Zeit machte sie sich dennoch, über all das Warten und die fehlenden Freuden. Einen Moment lang sucht sie nach einem passenden Wort, welches dies alles zusammenfassen könnte: «Das hat etwas Klebriges.»
Klebrig. Der Vergleich könnte auch in einem ihrer Texte stehen. Sprecher gehört zu den wichtigsten Journalistinnen des deutschsprachigen Raums und wurde mehrmals ausgezeichnet. Ihre Karriere begann sie einst bei der Frauenzeitschrift «Elle». Später schrieb sie für die «Weltwoche». Und seit 2003 arbeitet sie als freie Journalistin, etwa für die NZZ oder das Magazin «Reportagen».
Sie erschafft Bilder in den Köpfen der Leserinnen
Eben erschien bei Dörlemann «Irrland» mit Artikeln aus fast 20 Jahren. Die Auswahl zeigt Sprechers thematische Vielfalt: Sie berichtete aus dem Gaza-Streifen und über Ferien für Plüschtiere, porträtierte den «Todespfleger» Roger A. und den Schwiegersohn der Nation, Nik Hartmann. Das Buch verdeutlicht, weshalb sie einen ausgezeichneten Ruf geniesst. Mit wunderbaren Rhythmuswechseln treibt sie ihre Reportagen voran. Sie erschafft Bilder in den Köpfen der Leserinnen, regt mit präzisen Beobachtungen und witzigen Vergleichen zum Nachdenken an. «Die besten Reportagen sind die, bei denen die Leser das Gefühl haben, selber dort gewesen zu sein», sagt sie.
Spricht man mit Margrit Sprecher über ihre Arbeit, bleiben keine Zweifel an ihrem Berufsethos. Sie verwirft die Hände, ruft energisch aus und lacht ungläubig auf, wenn sie über frühere Texte spricht – hier ist ihr etwas zu umständlich, dort fehlt Hintergrund. «Ich bin strenger mit mir geworden.» Und überhaupt schaue sie immer vorwärts. Deshalb freue sie sich auch, wenn es mit Reportagen wieder losgehe. «Ich bin jemand, der raus muss.» Draussen sind die Schafe längst ans andere Ende der Weide gezogen. Ihre Glocken bimmeln jetzt aus der Ferne.
Buch
Margrit Sprecher
Irrland – Reportagen
272 Seiten
(Dörlemann 2020)
Margrit Sprechers Kulturtipps
Reportagen
Shura Burtin, Mark Arax, Du Qiang: True Stories (Puntas Reportagen 2020)
«Die drei besten Reportagen der Welt.»
Roman
Karl Rühmann: Glasmurmeln, ziegelrot (Rüffer&Rub 2018)
«Wie sieht es im Kopf eines Kindes aus, das schikaniert wird, weil es Regeln und Sprache im fremden Land nicht versteht? Nein, keine Gut-Menschen-Literatur. Im Gegenteil.»
Konzert
Helmut Vogel und Graziella Rossi
«Um 9 Uhr abends setzt sich an der Neptunstrasse 20 in Zürich der Schauspieler Helmut Vogel an den Flügel und die Schauspielerin Graziella Rossi singt am offenen Fenster – ein einziges Lied, dafür täglich.»