Ich habe ein Buch geschrieben, Mutter! Sie lächelt. Sie würde das Buch lesen, wenn sie die Buchstaben noch sehen könnte. Sie fragt nicht, wovon das Buch handelt. Ich schreibe. Das respektiert sie. Dass sie im Alter bei mir sein könne, sagt sie, das sei das Schönste in ihrem Leben. Sie habe das nie zu hoffen gewagt und sei die beneidenswerteste Frau auf Erden. Doch ihrer Meinung nach arbeite ich zu viel, das bekümmert sie. Tagein, tagaus krümme ich mich über meinen Computer.
Du hast rote Augen, bist bleich und gehst zu wenig an die Luft, mein Kind.
Ich bin 70. Und noch immer ihr Kind, eines, das Bücher schreibt und nicht gestört werden will. Auf Zehenspitzen huscht Mutter durchs Zimmer und krabbelt mit der Fingerspitze an meinem Rücken, weil wir beide doch essen müssen.
Was soll sie einkaufen?
Ich vergesse beim Schreiben das Essen. Ihr reicht ein Milchkaffee mit Brot. Mehr braucht sie nicht. Aber ich, meint sie, müsse Vitamine essen. Mir fällt auf, dass meine Figuren nie einkaufen, nie essen. Ihr Leben ist so verwickelt, dass sie keinen Hunger haben.
Meine Mutter zählt über 90 Jahre. Sie ist winzig und zart wie ein Vogel. Sie war einmal gross und stark, hat Vorfenster über die Estrichtreppe getragen und ohne fremde Hilfe in den Rahmen gehängt. Mit roten, rissigen Händen fütterte sie Jagdhunde, während mein Vater aus dem Bauch eines abhängenden Bocks Eingeweide in einen Blecheimer rutschen liess. Der Blutgeruch und die Fliegenklumpen müssen sie geekelt haben. Sie war eine Städterin. Als Heranwachsende eröffnete sie einen Coiffeursalon, hatte eine grosse Kundschaft, und am Sonntag ging sie gern ins Kino. Im Frauenbad besass sie eine eigene Kabine. Am liebsten sass sie vor ihrer aufklappbaren Spiegelkommode aus Vogelaugenahorn, umgeben von Silberbürste und kunstvollen Haarkämmen, bog mit ihrer Brennschere Wellen in den Bubikopf, atmete den Duft der Puderquaste und flocht Seidenbänder um die Wäsche mit ihrem Monogramm.
«Ich war jemand.»
Und dann kam mein Vater mit seinen Nagelschuhen, Gewehren und Hunden. Ich erinnere mich, dass sie Taschentücher um die entzündeten Hände schlang. Warum sie geheiratet hat? Ihre Eltern wollten es so. Es war damals üblich. Sie gehorchte und schickte sich an, klaglos Welten zu überbrücken, die in Wahrheit unüberbrückbar waren.
«Doch erklär mir, mein Schatz, wie ich dich ohne IHN hätte empfangen können?»
Sie hastet in den Laden am andern Dorfende, gönnt sich unterwegs keine Kaffeepause, sondern lehnt ihre knochigen Schultern an eine Hauswand, um zu verschnaufen. Im Laden muss sie sich erst einmal auf die Bank setzen, ganz an den Rand. An der Einkaufstasche auf ihren Knien biegt sie die Henkel vor und zurück, während sie alles memoriert, was die Tochter aufgetragen hat. Sie will nichts vergessen. Das Kind soll nicht denken, sie sei alt, zu nichts mehr nütze und gehöre in ein Heim.
Dass Mutter sich nichts gönnt, tut mir weh. Dass sie sich immer auf den Stuhlrand setzt, tut mir weh. Auch dass sie sich nur auf Zehenspitzen an meinen Arbeitsplatz getraut, tut mir weh. Aber dass sie fürchtet, ich könnte sie in ein Heim bringen, treibt mir Tränen in die Augen.
Ich werde eines Tages über sie schreiben. Ich habe es ihr gesagt. Sie will das nicht.
«Wer bin ich schon?» Mit einer Handbewegung streicht sie eine Spinnwebe vor dem Gesicht weg.
«Die du immer schon gewesen bist. Die du immer bleiben wirst. Meine Mutter.»
Manchmal setze ich mich mit einem Text zu ihr und lese daraus vor. Sie will auf dem Bett liegend zuhören. Sie faltet die Hände, als ob sie bete, und schliesst die Augen. Unter den Lidern bewegen sich ihre Augäpfel. Sie schaut sich meine Szene an. Zum Text äussert sie sich nicht. Er ist schwierig. Eine seltsame und unbegreifliche Welt fliegt an ihr vorüber. Sie kann sie nicht fassen. So sehr sie es sich wünscht. Ja, sie wünscht es von ganzem Herzen, weil ich glücklich sein soll. Auf keinen Fall möchte sie mich mit einem falschen Wort verärgern.
Ich sollte sie in den Arm nehmen. Sie ist so gewichtslos, dass ich sie mühelos vom Bett heben und zu einem wunderbaren Ort hintragen könnte. Doch wo wäre dieser Ort? Wenn ich Mutter fragen würde, sie müsste nicht überlegen.
«Er ist bei dir, mein Kind!»
Sie versinkt oft in Gedanken. Ihre Augen fixieren einen Punkt und sie horcht in sich hinein. Ich weiss nicht, woran sie denkt. Ich möchte das Buch lesen, das sie nie geschrieben hat. Sie erzählt wenig von den Filmen ihrer Jugend, aber ich hoffe, sie bricht manchmal zu den Diven und Paradiesen ihrer Zeit auf. Im Grunde habe ich keine Ahnung von ihr. Wie ist es möglich, so viele Bücher zu schreiben und dabei so wenig über den nächststehenden Menschen zu wissen?
Wie hat sie die 50 Jahre verbracht, in denen sie allein gelebt hat?
Und davor? Meine alleinerziehende Mutter hat sich das Geld für Krankenkasse, Schuhe und Schulreise vom Mund abgespart. Sie weinte oft. Ich kam von der Schule und fand sie in Tränen aufgelöst. Noch mehr ängstigte mich, wenn sie tränenlos auf dem Küchenschemel in sich zusammengesunken sass und mit verquollenen Augen auf ihre verschlungenen Hände starrte. Doch manchmal lachte sie voll Übermut und tanzte mit mir um den Tisch. Oder sie klebte mit dem Ohr am Radiomöbel, wenn der Tenor von Wunderlich erklang. Als die Gotthelf-Hörspiele gesendet wurden, durfte ich mich in ihr Bett legen. Sie hielt mich im Arm, damit ich mich nicht ängstige. Dies waren die unvergesslichen Glücksstunden meines Kinderlebens. Jeden Abend begleitete sie mein Nachtgebet. «Amen», sagte ich. Und sie fügte bei: «Gott mach, dass uns kein Vormund aufgezwungen wird.»
Als ich sie zu mir holte, ging sie zum Amt und liess ihren Namen durchstreichen. Keine Erwähnung im öffentlichen Publikationsblatt bitte! Sie denkt, sie kann immer dünner und kleiner werden und schliesslich einfach verschwinden. Sie kann ungesehen im Dunkel der Nacht zum Bahnhof eilen, um dort auf die Rückkehr der Tochter von einer Lesung zu warten. Natürlich stockt mir der Atem, wenn ich um Mitternacht auf dem verlassenen Bahnsteig das schwankende Persönchen im schlotternden Wintermantel erkenne, dem das Hütchen über die Augen gerutscht ist. Doch Mutter winkt mit ihrer winzigen Handtasche und lacht.
Ich kann dich doch nachts nicht allein nach Hause marschieren lassen, Kind. Das ist heutzutage viel zu gefährlich.
Margrit Schriber
Die Autorin wurde 1939 geboren und ist in Brunnen und Küssnacht im Kanton Schwyz aufgewachsen. Sie hat eine Banklehre absolviert und als Bankangestellte, Werbegrafikerin oder Mannequin gearbeitet. Seit den 70er-Jahren veröffentlichte Margrit Schriber rund 20 Erzählbände oder Romane, in den letzten Jahren vor allem historische Werke über unkonventionelle Frauen, die ihrer Zeit voraus waren. Zuletzt ist ihr Roman «Glänzende Aussichten» (Nagel & Kimche) erschienen. Die Schriftstellerin lebt im aargauischen Zofingen.