Marginalisierter Filz, mächtiges Volk
Ein kurzer Blick hinter die Kulissen der Macht: Drei Journalisten stellen sich im Buch «Wer regiert die Schweiz?» die Frage, ob das Volk, die Verwaltung oder der Filz die Schweiz regieren.
Inhalt
Kulturtipp 22/2014
Letzte Aktualisierung:
15.10.2014
Yves Demuth
Geweckt von einem SMS sprintet Nationalrat Müller aus dem sogenannten Männerzimmer des Bundeshauses in den Nationalratssaal. Dort drückt er den Abstimmungsknopf und eilt umgehend ins Parlamentsrestaurant, um einen Lobbyisten zu treffen. An diesem Tag bescheren Müller und seine Mitstreiter den Schnapsbrennern tiefere Steuern, indem sie einen komplizierten Gesetzestext mit Jugendschutz garnieren und so Allianzen schmieden können. Mit dieser fiktiven Episo...
Geweckt von einem SMS sprintet Nationalrat Müller aus dem sogenannten Männerzimmer des Bundeshauses in den Nationalratssaal. Dort drückt er den Abstimmungsknopf und eilt umgehend ins Parlamentsrestaurant, um einen Lobbyisten zu treffen. An diesem Tag bescheren Müller und seine Mitstreiter den Schnapsbrennern tiefere Steuern, indem sie einen komplizierten Gesetzestext mit Jugendschutz garnieren und so Allianzen schmieden können. Mit dieser fiktiven Episode illustrieren die Autoren Matthias Daum, Ralph Pöhner und Peer Teuwsen, wer im Bundeshaus wie Macht ausübt.
Macht-Mechanismen
Im Buch «Wer regiert die Schweiz?» erzählen aber auch real existierende Akteure der Bundespolitik von ihren Erfahrungen. Sie sollen helfen, die Mechanismen der Macht offenzulegen. Die Frage nach dem grössten Einfluss im Land hatte Hans Tschäni, der langjährige Inlandchef des «Tages-Anzeigers», bereits 1983 in seinem gleichnamigen Buch gestellt. Damals kritisierte der Publizist die «Vorfabrikation der Gesetze» durch Lobbyisten und eine «Filzokratie», welche das Volk weitgehend entmachtet habe. Diese Zeiten seien vorbei, diagnostizieren nun die drei Zürcher Journalisten, die eine gemeinsame Zeit in der Schweizer Redaktion der «Zeit» verbindet.
Der Filz sei zerbröselt, die Wirtschaft mit sich selbst beschäftigt und die Beeinflussungsversuche der Lobbyisten zu häufig und deshalb weniger wirksam. Zudem entscheide der Bundesrat in Krisensituationen oft nicht souverän, sondern lagere Verantwortung an Fachgremien aus. Das Parlament sei selbstbewusster, die Verwaltung mächtiger und das Volk unberechenbarer geworden. Einzelpersonen wie «Abzockerschreck» Thomas Minder könnten heute die mächtige Bahnhofstrasse ohne Probleme das Fürchten lehren.
Doch wer wie grossen Einfluss auf die politischen Entscheide hat, vermögen die Autoren nicht richtig herauszuschälen. Sie lassen indes durchblicken, dass sie die Macht des Volkes inzwischen für zu gross halten.
Erzählerischer Zugang
Zwar wärmt das Buch streckenweise Bekanntes auf. Doch die theoriefreie und süffig geschriebene Erkundungstour durch das unsichtbare Machtgefüge des Landes besticht durch ihren erzählerischen Zugang. Empfohlen sei die Lektüre deshalb all jenen politisch Interessierten, die Standardwerken wenig abgewinnen können oder die Hintergründe zum Hin und Her bei Gesetzesnovellen routiniert überblättern. Einen kurzen «Blick hinter die Kulissen der Macht», wie die Buchautoren auf dem Titel versprechen, ist ihnen gewiss.
Matthias Daum, Ralph Pöhner, Peer Teuwsen
«Wer regiert die Schweiz?»
212 Seiten
(Hier und Jetzt 2014).