Paris 1914, dann kurze Zeit Witebsk in Weissrussland, mehr als ein Jahr später Sankt Petersburg: Das sind die Stationen in den verrückten Jahren des Marc Chagall. Er wollte eigentlich im französischen Künstlermilieu leben und arbeiten. Doch im Juni 1914 kehrte er in seine östliche Heimat zurück, um den Geburtstag seiner Schwester zu feiern. Er wollte nur kurze Zeit bleiben.
Neue politische Verhältnisse
Anfang August brach der Erste Weltkrieg aus und durchkreuzte seinen Lebensplan wie bei allen andern Zeitgenossen damals. An eine Rückkehr in das geliebte Paris war nicht mehr zu denken; Chagall (1887–1985) musste in Weissrussland bleiben. Der unfreiwillige Aufenthalt brachte ihm nicht nur Unglück. Er heiratete ein Jahr nach seiner Rückkehr die betuchte Schriftstellerin Bella Rosenfeld, mit der er später nach St. Petersburg zog, wo das Paar die Oktoberrevolution 1917 erlebte.
Chagall war zuerst begeistert von der revolutionären Stimmung. Er profitierte von den neuen politischen Verhältnissen als Kunstkommissar von Witebsk und Direktor der Kunstakademie. Nach zwei Jahren wurde er nicht etwa von politischen Gegnern weggeputscht, sondern von radikalen Künstlerkollegen wie etwa von Kasimir Malewitsch mit seinem berühmten «Schwarzen Quadrat». Chagall hatte ihn selbst an seine Institution berufen. Vergleicht man die Kunst der beiden, ist nachvollziehbar, dass ihr gestalterisches Verständnis nicht ganz auf der gleichen Linie lag.
In den frühen 1920er-Jahren führten die Sowjets nach und nach ein Schreckensregime ein und diskreditierten eigenständige Kunstansätze. Das desillusionierte Paar zog nach Berlin, wo Chagall betuchte Bewunderer hatte, später kehrten sie nach Frankreich zurück.
Das Kunstmuseum Basel erinnert nun an die frühen Schaffensperioden des Künstlers. Unter dem Titel «Jahre des Durchbruchs» findet der Besucher, Werke die unter dem Einfluss der Pariser Kunstszene entstanden sind. Chagall zog mit 23 Jahren von Russland nach Montparnasse in sein Atelier «La ruche» («Der Bienenkorb»), wo er sich in den Kreisen der Avantgarde sogleich verstanden fühlte. Chaim Soutine, Fernand Léger oder Amadeo Modigliani gehörten dazu, mit denen er das Haus teilte. Das Foto zeigt den Künstler in jenen Jahren mit einem leicht weltabgewandten Blick, der am Betrachter vorbeizielt.
Chagalls damalige Werke vereinten russisch-jüdische Tradition mit dem Aufbruch der Vorkriegszeit, als in der Kunst eine Weile alles möglich schien. Typisch in diesem Zusammenhang ist sein berühmtes Werk «Der Viehhändler» von 1912. Hier spürt der Betrachter förmlich die Sehnsucht nach der weissrussischen Scholle, der sich Chagall trotz seiner Liebe zu Paris stets zugezogen fühlte.
Die idealisierte Darstellung des russischen Landlebens zeigt ein Paar, die Frau mit angedeuteter Schwangerschaft, das Pferd offenbar mit einem Fötus im Bauch. Der Viehhändler auf dem Bock schaut auf die Frau zurück, als ob er sich ihrer Liebe vergewissern möchte. Das ist allerdings nur eine mögliche Interpretation; vielleicht kennt der Viehhändler die Frau nicht, vielleicht schielt er nach dem Kadaver auf ihren Schultern. Der Betrachter weiss es nicht.
Wichtig ist, dass Chagall mit seinen Bildern ein grossartiger Geschichtenerzähler ist. In diesem Fall berichtet er von seinen Kindheitserinnerungen an die Markttage in seiner weissrussischen Heimat. Noch heute möchte man die Gedankenwelt seiner Protagonisten kennenlernen.
Rückbesinnung auf die Wurzeln
Dann kam mit dem Ersten Weltkrieg die Zeit in Russland, in der er sich auf die Rückbesinnung seiner Wurzeln konzentrierte, weit weg von dem nunmehr kriegsgeplagten Pariser Milieu. In dieser Zeit entstanden neben Selbstporträts das Ölgemälde «Der Jude in Rot». Ein sitzender Mann, dem die Lebenserfahrung ins Gesicht geschrieben steht. In Hintergrund sind die Umrisse seines Schtetls erkennbar. Die rechte Hand ist in einem Handschuh verborgen und deutet ein vergangenes Drama an. Chagall hat 1915 verschiedene Variationen dieses bärtigen Mannes gemalt.
«Fauvismus» lautet der Fachbegriff für die farbintensive Kunstrichtung, die den jungen Chagall am meisten beeindruckte. Die Bezeichnung ist auf das französische Wort «les fauves», auf «wilde Bestien», zurückzuführen, wobei bei vielen Künstlern der damaligen Zeit, wie etwa Henri Matisse, wenig Ungebändigtes auszumachen ist. Vielmehr sind diese Kompositionen sorgfältig durchdacht und alles andere als zufällig oder gar provokativ. Wahrscheinlich wollten die Fauvisten eher ihre Aversion gegen etablierte Akademien der damaligen Zeit illustrieren und die damit verbundene gestalterische Freiheit propagieren. Genau diese Vorstellungen entsprachen dem Weltbild Chagalls.
Chagall. Die Jahre des Durchbruchs 1911–1919
Sa, 16.9.–So, 21.1.
Neubau Kunstmuseum Basel