Er ist ein viel beschäftigter Mann, sie die Frau im Hintergrund, die alles organisiert, ihm den Rücken freihält. «Sie waren froh miteinander, ein eingespieltes Paar: Andrea und Anton.» Doch als sie das Thema Heirat aufbringt, lernt er im Naturkundemuseum plötzlich eine andere kennen. Eine, die wie er den von Motten zerfressenen Eisbären liebt. Anton zieht aus, zur neuen Freundin in eine kleine Wohnung nach Mannheim – und Andrea leidet. Nach drei Monaten meldet sich der Abtrünnige wieder, dann immer öfter. «Sie merkte an seiner Stimme, dass die Motten zu arg an den Eisbären frassen.» Als er wieder zu ihr zurückkehren will, nimmt sie ihn auf – «ohne viel Aufhebens davon zu machen».
Gemeinsam Erlebtes anders empfunden
So pragmatisch kann es zu- und hergehen in Manuela Reicharts Erzählungen, die sie in ihrem neuen Band «Beziehungsweise» versammelt. Der Untertitel «Liebesvariationen» deutet es an: Die Autorin vereint in ihrem schmalen Band ein breites Spektrum an Liebesgeschichten. Leidenschaftliche und abgebrühte, romantische und routinierte, ungewöhnliche und alltägliche. Sie erzählt von starken Bindungen und flüchtigen Affären, von den Anfängen, «die immer schön sind», und den meist schmerzhaften Enden, die ihre Spuren auch in den nachfolgenden Beziehungen hinterlassen.
Amüsant und tragikomisch beschreibt Reichart die unterschiedliche Wahrnehmung von Mann und Frau. Etwa, als ein altes Paar seine Erinnerungen an den gemeinsamen Anfang oder den Alltag auffrischt und zur jeweiligen Überraschung des anderen auf wesentliche Unterschiede stösst. Während sie die erste Liebesnacht nicht besonders schön fand, entgegnet er: «Was soll das denn heissen? Es war hervorragend.» Immer wieder versuchen sie sich an einer gemeinsamen Geschichte und kommen doch meist auf verschiedene Erinnerungen.
Welche unterschiedlichen Rollenerwartungen bei Mann und Frau herrschen, wird in der ersten und vielschichtigsten Erzählung spürbar. Im Zentrum steht Annemarie, eine unabhängige Frau, die in Paris ein neues Leben unter anderem Namen beginnt. Aus der Sicht ihrer Freundin, der Ich-Erzählerin, wird ihre Vergangenheit aufgerollt: Sie erzählt, wie Annemarie einst ihren Mann und das gemeinsame Zuhause mit den beiden Töchtern für eine leidenschaftliche Affäre verlassen hatte. Und wie sie dafür von der Gesellschaft geächtet wurde – anfangs auch von den eigenen Kindern, die vom Vater gehört hatten, dass sie eine schlechte Mutter sei.
Flucht vor Konventionen, Aufbruch in neues Leben
Die Leidenschaft der neuen Beziehung flaut schnell ab, aber später bekommt Annemarie die Chance auf einen Neubeginn mit einem anderen liebenswerten Mann. Doch auch diesen verlässt sie, kurz nachdem das gemeinsame Haus fertiggebaut ist, flieht vor den Konventionen. Dieser Lebensentwurf ist offensichtlich nicht der, der ihrem Innern entspricht, und sie zieht daraus ihre radikalen Schlüsse, macht sich auf in ein anderes Leben …
Manuela Reichart, die in Berlin als Autorin, Literaturkritikerin und Radiomoderatorin tätig ist, gelingt in einer einfachen, klaren Sprache ein feinfühliger, von leisem Humor durchzogener Band über die Liebe: direkt aus dem Alltag gegriffen, ab und an mit überraschenden Wendungen – so wie sie auch das Leben bereithält.
Buch
Manuela Reichart
«Beziehungsweise. Liebesvariationen»
176 Seiten
(Dörlemann 2017).