Wenn jemand uns immer wieder aufs Neue überrascht, gewöhnen wir uns an den Vorgang. Die Überraschung überrascht nicht mehr. Erst wenn sie ausbleibt, sind wir wieder überrascht. Diesem Muster folgt Bob Dylan. Viele Jahre lang galt er in seinen Konzerten als unberechenbar. Manchmal war er glänzend drauf, manchmal miserabel. Er konnte mit der Band verschmelzen oder sie keines Blickes würdigen, er konnte von magischer Präsenz sein oder von bleierner Apathie. Manche seiner Songs entstellte er bis zur Unkenntlichkeit, manche sang er mit atemberaubender Innigkeit. Vor allem aber änderte er Abend für Abend die Setlist. Er grub die seltsamsten Raritäten aus und folgte dabei allein der Inspiration des Augenblicks. Verriet seinen Mitmusikern erst im letzten Moment, was er spielen würde. Irritiert stolperten sie ihm hinterher. Oftmals waren sie nicht zu beneiden.
Wir als Konzertbesucher dagegen waren begeistert. Wir wohnten einem schöpferischen Prozess bei, nicht bloss der Präsentation von dessen Ergebnis. Wir bezeichneten Dylan ehrfürchtig als Proteus, als Meister der Verwandlung, und erwarteten stets das Unerwartete. Dabei nahmen wir in Kauf, dass einiges missriet: Strophen gingen vergessen, Verse wurden vertauscht. Geschenkt! Verzückt sammelten wir die Fundstücke. Wer einen Song erleben durfte, den Dylan im Lauf seiner über 50-jährigen Karriere überhaupt nur einmal spielte, der schätzte sich glücklich. Habitués fanden natürlich die Strukturen der Setlists heraus: Auf manchen Tourneen gab es konstante Muster von gesetzten und variablen Songs.
Wie alle Fanatiker – ob es sich nun um Briefmarkensammler handelt oder um Experten für Seeschlachten – sind die Dylan-Anhänger Pedanten. Doch auch die Homepage des Meisters selbst enthält Listen. Sie verraten, dass der Barde «Like A Rolling Stone» bis und mit US-Tournee vom April/Mai 2015 tatsächlich 2011 Mal und «Blowin’ In The Wind» immerhin 1290 Mal live gespielt hat. «Sad Eyed Lady Of The Lowlands» und «Up To Me» aber noch gar nie. «Buckets Of Rain» und «Caribbean Wind» wiederum spielte er ein einziges Mal.
In den letzten zweieinhalb Jahren aber waren wir als Chronisten des mutmasslichen Chaoten rat- und arbeitslos. Dylan verwirrte uns, weil er uns nicht mehr überraschte. Seit Oktober 2013 war er – mit ganz wenigen Ausnahmen – mit dem Autopiloten unterwegs. Abend für Abend spielte er die gleichen 18 oder 19 Songs.
Das hatte seine Vor- und Nachteile. Auf der positiven Seite schlug zu Buche, dass Dylan konzentriert und fokussiert spielte. Er war präsent, vergass seine Texte nicht, artikulierte verständlich und traf sogar den einen oder anderen Ton. Das hat Fans im Internet zur Annahme verleitet, er habe sich an den Stimmbändern operieren lassen. Ich glaube das allerdings nicht.
Seit etlichen Jahren spielt Dylan nun mit der gleichen Band. Die ergrauten Jungs sind immer noch auf Zack. Sie könnten zwar viel mehr, als sie dürfen. Aber sie agieren auch an der kurzen Leine souverän, so sehr man bedauern mag, dass ein Crack wie Charlie Sexton an der Leadgitarre nie ein längeres Solo spielen darf, während der Meister auf der Mundharmonika unverdrossen sein chaplineskes Gestolper pflegt.
Die Konzerte, die Bob Dylan in jüngerer Zeit gab, waren durch Einförmigkeit und Verlässlichkeit gekennzeichnet. Die Setlist umfasste Songs erster Güte wie «Working Man’s Blues #2» und «High Water», aber auch Füllmaterial wie den launigen Bluesrock «Early Roman Kings». Auf der negativen Seite schlug zu Buche, dass nicht nur die Auswahl der Songs jede Überraschung vermissen liess, sondern auch die Interpretationen einander immer ähnlicher wurden. Ich habe etliche Bootleg-Aufnahmen der letzten Tourneen verglichen: Da geschah kaum mehr etwas Neues, da wird nichts gewagt, da entwickelte sich nichts mehr.
Deshalb nahm ich mir vor, dieses Jahr meine Sommerferien nicht so zu gestalten, dass ich den Meister am 15. Juli auf der Piazza Grande in Locarno und am 16. Juli auf dem Marktplatz in Lörrach erleben könnte. Ich glaubte einfach, allzu genau zu wissen, was mich erwarten würde: More of the same. Die gleiche währschafte Mahlzeit wie immer.
Begraben hatte ich die Hoffnung, dass ich Meisterwerke wie «Visions Of Johanna», «Jokerman», «Blind Willie McTell» oder «Mississippi» zu hören bekommen könnte. Ich erwartete nur noch das Menu 1, nachzulesen auf www.boblinks.com. Schon 1997, auf «Time out of Mind», sang Dylan im grossartigen Song «Not Dark Yet» die Verse: «I know it looks like I’m movin’, but I’m standing still». Damals hielten wir das für eine bittere Momentaufnahme oder gar für eine ironische Koketterie. Nun glaubte ich zu wissen, wie ernst gemeint die Worte waren.
Die Zeiten ändern sich, und wir verändern uns in ihnen: So sagt es ein lateinisches Sprichwort. «The Times They Are A-Changin’»: So sang es 1963 der blutjunge Bob Dylan. Und er hat recht behalten: Die Zeiten ändern sich weiterhin. Aber der einstmals so quecksilbrige «Song & Dance Man» trat nun eine gefühlte Ewigkeit an Ort. Das machte mich richtig fertig, und ich sagte mir trotzig: Solange der sich nicht bewegt, bewege auch ich mich nicht mehr. Nicht nach Locarno und nicht nach Lörrach.
Was aber macht der Saubeutel? Tritt zu Beginn seiner Europa-Tournee am 20. Juni in Mainz mit einer im zweiten Teil des Konzerts völlig veränderten Setlist auf, nachdem er die ersten sieben Songs heruntergenudelt hat wie seit Anno Vollbart. Und tags darauf in Tübingen: Das gleiche Muster von Pflicht und Kür. Diesmal ist in der zweiten sogar «Blind Willie McTell» dabei. Verflixt noch mal! Ich muss meine Ferienpläne doch wieder ändern. Wie bringe ich das nur meiner Familie bei?
Manfred Papst
Geboren 1956 in Davos, studierte Manfred Papst Sinologie, Germanistik und Kunstgeschichte in Zürich. Nach seinem Zweitstudium der Geschichte arbeitete er als Korrektor, Lektor, Übersetzer und Herausgeber für verschiedene Verlage. Von 1989 bis 2001 war Papst Programmleiter des NZZ-Buchverlags, seit 2002 leitet er das Ressort Kultur der «NZZ am Sonntag».