In Schuhen mit zehn Zentimeter hohen Absätzen stakst Darstellerin Candice Bogousslavsky unsicher eine Treppe herunter. Sie nimmt Kontakt zum Publikum auf, gibt sich naiv, stolpert – aber nur scheinbar, denn gekonnt fängt sie sich in einer Brückenposition und kommt über die Hände wieder zum Stehen. Wir befinden uns mitten in der Probe des neuen Programms «Weil wir fliegen können» des Circus Monti. Bald ist Premiere.
Im Stück geht es um eine Protagonistin, die einen Traum hat, für den sie Risiken eingehen muss. Regisseurin Ulla Tikka sagt: «Es ist sehr verspielt, das Bühnenbild wechselt, die Musik ist Teil der Inszenierung.» Das klingt eher nach theatralen denn zirzensischen Elementen. Und damit führt Tikka eine Entwicklung fort, die der nun 40-jährige Circus Monti bereits seit einigen Jahren durchläuft.
Inspiriert von der Entwicklung in Frankreich
1985 startet Monti als «poetisch schmucker Circus», 1992 experimentiert er mit Puppentheater. Sechs Jahre später gewinnt er unter der Regie von Clown Dimitri als erster Zirkus den Prix Walo. 2023 folgt der Schweizer Preis für darstellende Künste.
Monti ist nicht der einzige Zirkus, der öfter zu theatralen Mitteln greift. Seit den 70er-Jahren erfreut sich – ausgehend von Frankreich – der «zeitgenössische Zirkus» wachsender Beliebtheit. Statt aneinandergereihter Nummern, durch einen Zirkusdirektor angepriesen, werden die Acts fortan in ein Narrativ eingebunden.
Von der Kavallerie zur Poesie
Aber eigentlich wandelt sich der Zirkus, seit er im England des 18. Jahrhunderts aus Kunststücken ehemaliger Kavalleristen entstanden ist. Auf die Erfindung des elektrischen Lichts reagiert er mit Paillettenkostümen und auf den Kolonialismus mit dressierten Wildtieren. Als Kritik an der Tierhaltung laut wird, setzen viele Truppen auf Geschichten statt auf Tiger. Sie wollen das Publikum nicht mehr nur beeindrucken, sondern auch berühren. Zirkusschulen und Festivals sorgen in der Szene für Orte des Austauschs. Der Zirkus folgt dem Zeitgeist.
Monti-Regisseurin Ulla Tikka kommt aus Finnland und ist hauptberuflich Seiltänzerin. Sie hat bereits in internationalen Zirkusstücken nach Günter Grass’ «Blechtrommel» oder Dürrenmatts «Minotaurus» mitgewirkt. Mit ihrer Compagnie Roikkuva entwickelt Tikka Produktionen, die sie im eigenen Zelt, im «Kulturpalast», zeigt. Nicht aus jedem Werk könne man ein Zirkusstück machen, sagt die Regisseurin.
«Abstrakte Themen wie Streit, Liebe oder Träume lassen sich – wie auch im Tanz – gut visuell und in Bewegung übersetzen. Grosse Gefühle kann man mit dem Risiko der Artistik unterstreichen.» Stücke mit einem ausgeprägten Textfokus hingegen seien schwer adaptierbar.
Max Gnant ist Schauspieler. Dank seiner Ausbildung in Bewegungstheater an der Accademia Dimitri im Tessiner Dorf Verscio wird er oft für Zirkusstücke in der freien Szene, etwa vom Zirkus Chnopf, engagiert. Er erzählt von den vielen Ansätzen des zeitgenössischen Zirkus.
Neben Monti oder Chnopf, die eher von der Artistik ausgehen und theatrale Mittel einweben, gibt es auch Kunstschaffende, die Projekte komplett vom Thema aus denken. «Da kann es zum Beispiel vorkommen, dass eine Seiltänzerin mit ihren Mitteln und Ausdrucksweisen ein Stück zum Nahostkonflikt macht.»
Diese Erarbeitung ist eine ganz andere Form und vielleicht näher an der freien Tanz- und Theaterszene als am Zirkus. Solche Stücke sieht man beispielsweise beim Festival Zirqus in Zürich.
Bunte Szene, verstaubte Förderung
Die drei Kunstsparten Zirkus, Tanz und Theater befruchten sich also, vermischen sich und blühen neu auf. Die Förderung allerdings hinkt hinterher. Tikka sagt: «Ich muss bei jedem Projektantrag neu überlegen, ob ich mein Kreuzchen bei Tanz oder Theater mache. Zirkus ist aber weder nur das eine noch das andere.» Auch der Schauspieler Gnant kritisiert die Kriterien der Förderung.
Das literaturbasierte Sprechtheater habe im deutschsprachigen Raum ein besonderes Erbe, das mit vielen finanziellen Mitteln einhergehe. «Das sorgt für eine sehr reiche Theaterlandschaft, was super ist», sagt Gnant. «Daneben hat der Zirkus aber immer noch dieses Image des armen, freien Landstreichers, das die Situation romantisiert und ihm nicht gerecht wird.» Die schubladenartige Unterscheidung in Kunst und Gewerbe habe auch mit Abgrenzung und Standesdünkel in der Kulturpolitik zu tun.
Doch auch dort tut sich etwas: Das Berliner Zirkus-Variété-Haus Chamäleon gewann 2023 den deutschen Theaterpreis und sorgte so für eine kleine Sensation. Die Intendantin des Hauses wirbt mit den Worten, man gewöhne ein Publikum ans Theater, das sonst nicht dort hingehen würde.
Aber kann der zeitgenössische Zirkus dem Theater wirklich helfen, dem Publikumsschwund zu begegnen? Tikka ist optimistisch: «Zirkusvorstellungen haben eine eher niedrige Besuchsschwelle. Wer dort positive Erfahrungen macht, den zieht es auch an weitere Liveveranstaltungen.»
Circus Monti: Weil wir fliegen können
Premiere: Fr, 9.8., 20.00
Merkur Areal Wohlen AG
Kulturpalast: Empire of fools
Ab Fr, 27.9., 20.00 Erle Perle Basel
Umkippen (mit Max Gnant)
Fr, 2.8., 19.00 Zirkusquartier Zürich
Festival Zirqus
Mi, 4.9.–So, 8.9. Zirkusquartier Zürich