Ob er gerade auf der Bühne des Theaters St. Gallen steht oder nicht: Der Interpret Paolo Gavanelli ist immer in Bewegung. Er spielt nicht, vielmehr bricht das Spiel aus ihm heraus. Agiert in den Kulissen gerade ein anderer Darsteller, dann hält es der erfahrene Verdi-Bariton keine drei Minuten auf dem Stuhl neben dem Regisseur Aron Stiehl aus. Stattdessen redet er mit der im Zuschauerraum sitzenden Mitspielerin Raffaella Angeletti, der Zweitbesetzung der Lady Macbeth. Dann macht er dem Bühnen- und Kostümbildner Anthony McDonald Zeichen. Beide gehen hinaus: Eben entstehen die Kostüme für Verdis «Macbeth»; vom Bühnenbild sind erst Teile zu sehen.
Dunkles Klima
Auch wenn Orchester und Chor noch fehlen, spürt man in dieser frühen Phase schon viel von dieser ungewöhnlichen Oper, von ihrem dunklen Klima und von der Mordlust, die sich darin ausbreitet wie ein Flecken Blut. Daran sind Paolo Gavanelli, der den Macbeth spielen und singen wird, und Mary Elizabeth Williams als Lady Macbeth wesentlich beteiligt. Sie hat an den St. Galler Festspielen auf dem Klosterplatz bereits die Odabella in Verdis «Attila» kraftvoll verkörpert, er hat dort zuletzt in «I due Foscari» den hin- und hergerissenen Dogen mit Hingabe verkörpert.
Im ersten Teil der «Macbeth»-Probe ergreift die Unruhe vom ehrgeizigen Bösewicht Besitz. Die Hexen haben ihm die Krone Schottlands prophezeit, ihn schaudert – und zugleich lockt die Macht. Während sein Freund Banco (Steven Humes) eher ratlos reagiert. Denn was hat es zu bedeuten, wenn die Hexen ihm sagen, er werde der Vater von Königen sein?
Verdis Entscheid
Gleich schreibt Macbeth an seine Frau, in der zweiten Szene liest sie seinen Brief. Und macht sich Gedanken über ihren Gatten. Ist er nicht doch zu weich? Die Lady aber weiss, was der Spruch dieser Hexen bedeutet. «Über Leichen geht der Weg zur Macht, und wehe dem, dessen Fuss zögert und der zurückschreckt», singt sie. Und weiter: «Komm! Eile! Entzünden will ich dir das kalte Herz! Zur kühnen Tat die Kraft dir verleihen.»
Der italienische Komponist Giuseppe Verdi hat im Sommer 1846 den Plan gefasst, für seine zehnte Oper zum ersten Mal auf William Shakespeare zurückzugreifen. «Macbeth» ist in Italien so gut wie unbekannt, und er ist der ungewöhnlichste Opernstoff, zu dem Verdi bisher gegriffen hat: Ein düsteres Drama ohne Liebeshandlung, das überdies dem Publikum den geliebten Tenorhelden vorenthält.
Doch Verdi weiss, was er tut. Bis ins Detail entwirft er die auf den dramatischen Kern reduzierte Handlung, und dem Librettisten Francesco Maria Piave legt er ans Herz: «Für die Verse denke stets daran, dass es dort kein überflüssiges Wort gibt.» An Felice Varesi, den Darsteller der Titelpartie, schreibt er: «Ich werde nie aufhören, dir zu empfehlen, die Situation und die Worte gut zu studieren; die Musik kommt von selbst.» Die Stimme der Lady aber müsse «etwas Teuflisches» haben, sie müsse «rau, erstickt und dumpf» klingen, nicht schön – und schon gar nicht engelhaft rein.
Aron Stiehl arbeitet sehr genau an den Gesten und Bewegungen. Von ihnen hängt ab, ob man versteht, was ungesagt bleibt. Wie zum Beispiel in dieser ersten Szene, in der aus den Freunden Macbeth und Banco beinahe unmerklich Feinde werden. Oder wie beim Lesen des Briefes, wo die Lady mehr und mehr das Berauschende, Anziehende der Macht spürt. «‹Macbeth› ist ein Geschenk», sagt Aron Stiehl zur Wahl des Stücks. «Viele sagen ja, Verdis ‹Macbeth› sei besser als das Original. Ich bin da vorsichtiger, denn beide sind grandios.» Und sie sind zeitlos: «Macbeth ist ein brutaler Herrscher, er hat viele Nachfolger bis heute. Aber es wäre zu einfach, Stalin, Hitler oder Ceausescu auf die Bühne zu bringen. Wir haben uns zwar inspirieren lassen vom Bunker Churchills aus den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Aber man kann abstrahieren.»
Ohnehin taucht mit den Hexen ja eine Kraft auf, die sich unserer «kleinen Realität» entzieht, wie Stiehl es ausdrückt. «Das Geniale an Shakespeares ‹Macbeth› ist ja, dass in den Hexen eine Energie auftritt, die grösser ist als wir. Heutzutage glauben wir ja, alles mit unserem Verstand erklären zu können, das ist ein Irrtum.»
«Macbeth» von Giuseppe Verdi
Premiere: Sa, 17.10., 19.30 Theater St. Gallen