Eigentlich sind es Gedichte, die über Jahre entstanden sind. Doch im Band «Republik der Taubheit» hat Ilya Kaminsky seine Texte zu einem packenden Lesedrama arrangiert. Es handelt von der besetzten Stadt Vasenka, deren Bewohner von fremden Soldaten gequält und getötet werden. Man kann das mit Blick auf die russischen Gräueltaten im ukrainischen Butscha als Prophezeiung lesen. Im Donbass geschieht ähnliches allerdings schon seit Jahren.
Die Menschen stellen sich taub
Die parabelhafte Geschichte beginnt mit einem Puppentheater auf der Strasse, das die Soldaten abbrechen. Dabei erschiessen sie einen tauben Jungen. Eine entsetzliche Tat, doch Kaminskys Verse sind nicht wütend. Sie zeichnen ein zartes, ruhiges Bild, das auch das Drastische einschliesst. Mehrmals kehrt die Szene der Hinrichtung des Kindes wieder, «sein Gesicht auf dem Asphalt, / diese Karte aus Knochen und offenen Adern».
Die Bewohner von Vasenka reagieren auf die Tötung des tauben Jungen mit einem eigenartigen Aufstand. «Unser Land erwachte am nächsten Morgen und weigerte sich, die Soldaten zu hören.» Die Menschen stellen sich taub und kommunizieren nur mit Gebärden – mit denen Kaminskys Band auch illustriert ist. Es ist zunächst eine symbolische Verweigerung des Gehorsams. Doch als die Puppenspielerin Sonya von Soldaten öffentlich gedemütigt und erschossen wird, lässt sich ihr Mann Alfonso zum Lynchmord an einem Soldaten hinreissen. Die Gewaltspirale dreht unerbittlich weiter. Bald wird auch Alfonso von Soldaten aus dem Haus gezerrt und auf dem Dorfplatz gehängt.
Diese Gräueltaten geschehen stets vor aller Augen. «Die Stadt sieht zu.» Dieser Satz, mitsamt der zugehörigen Gebärde, zieht sich durch das Buch. Die Bewohner von Vasenka hören zwar nichts. Aber sie sehen. Und sie lassen geschehen. So klagt Kaminskys Buch nicht allein die Aggression der Besatzer an, sondern thematisiert auch das moralische Dilemma der drangsalierten Menschen. Nicht auf die Soldaten zu hören, ist gewiss tapfer. Aber die Hilferufe der Nachbarn nicht zu hören?
Nachdem Alfonso den Soldaten erstochen hat, jubeln die Stadtbewohner, doch dann heisst es: «Vor Gottes letztem Gericht wird jeder von uns fragen: Warum hast du all das zugelassen? / Und die Antwort wird ein Echo sein: Warum hast du all das zugelassen?»
Illusionslos und doch voller Poesie
Widerstand wird auch in Galyas Puppentheater geleistet. Die Soldaten stehen Schlange, um sich sexuell bedienen zu lassen. Dabei werden sie stranguliert und durch die Hintertür hinausgeschleift. Diese dreiste «Revolution» führt zu weiteren Verhaftungen, was wiederum den Zorn von Stadtbewohnern weckt. Galya wird von ihren Landsfrauen gelyncht.
Alle machen sich schuldig, Versöhnung ist nicht in Sicht. Die «Republik der Taubheit» ist ein illusionsloses Buch. Doch zugleich ist es voller Poesie, dank einer Prise Fantastik und einem schwebenden Erzählton, den Anja Kampmann trefflich ins Deutsche übertragen hat.
Die Taubheit scheint sich der Autor auch selbst vorzuwerfen, wie das Anfangsgedicht zeigt. «Wir lebten glücklich während des Krieges», heisst es da. Der aus Odessa stammende Kaminsky hört keine Schüsse. Dies nicht nur, weil er hörbehindert ist, sondern auch, weil er weitab des Kriegsgeschehens in den USA lebt.
Buch
Ilya Kaminsky
Republik der Taubheit
Aus dem Englischen von Anja Kampmann
104 Seiten
(Hanser 2022)