In ihrem Herkunftsland ist die 1969 geborene Dichterin und Übersetzerin Halyna Petrosanyak seit jungen Jahren eine prominente Stimme. Ihr lyrisches Werk begann sie als Teil des «Stanislauer Phänomens», einer Künstlergruppe aus Iwano-Frankiwsk (ehemals Stanislau), welche die mehrsprachige und multiethnische Vergangenheit der Region thematisierte. Im historischen Kulturraum Galizien, zu dem Teile der heutigen Westukraine gehören, waren bis zum Zweiten Weltkrieg Ukrainer, Polen, Armenier, Deutsche, Roma und weitere Bevölkerungsgruppen beheimatet. Juden und Christen verschiedener Konfession lebten friedlich zusammen.
Kurz vor Kriegsausbruch auf Deutsch erschienen
Dem jüdischen Leben in Galizien, dem die Deutsche Wehrmacht und die Rote Armee ein brutales Ende bereitet hatten, setzte Petrosanyak mit ihrem Gedichtzyklus «Brücke aus Papier» bereits in den 1990ern ein Denkmal. Nicht nur dieser Nachgesang auf die einstmalige Diversität macht Petrosanyak zu einer Dichterin, die für die ukrainische Offenheit gegenüber dem Westen steht. Die Texte der weltgewandten Autorin zeugen von grosser Vertrautheit mit ganz Europa. Und ihre Auseinandersetzung mit der Tradition des Westens dokumentieren etwa ein Gedichtzyklus zu griechischen «Lieblingsgöttern» oder literarische Referenzen zu Don Quijote.
Dass ein Auswahlband mit deutschen Übertragungen von Petrosanyaks Lyrik verlegt wird, war somit schon längst überfällig. Dies umso mehr, als die promovierte Germanistin, die seit 2016 in Basel lebt, ihrerseits seit Jahren deutschsprachige Literatur ins Ukrainische überträgt und ihre eigenen Gedichte teilweise auch selbst ins Deutsche übersetzt. Dass der Band mit dem Titel «Exophonien» nun im Februar aus der Druckpresse kam, kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, ist eine bemerkenswerte Fügung, die manchem Gedicht eine überraschende Brisanz verleiht.
«Du sollst dich nicht wehren» lautet ein Gedicht von 2014, das schon damals, beim russischen Einmarsch in den Donbass, heftige Kritik an der europäischen Beschwichtigungspolitik übte. Falls sie es damals war, ist heute die blutige Bildsprache des Gedichts kein Jota mehr übertrieben: «Sei / gescheit: / lass dich / nett lächelnd / in Stücke zerreissen / und vergiss alles.» Petrosanyaks Zeilen erscheinen heute als eine bittere Prophezeiung der Tatenlosigkeit der internationalen Gemeinschaft.
Fragen bekommen eine neue Bedeutung
Doch scheint es auch eine zweite Chance zu geben, das Richtige zu tun. «Immigrantin», eines der frühesten Stücke, thematisiert eine Alternative, die man auf die Ankunftsländer der Millionen von Flüchtenden münzen kann. «Ich / Immigrantin / im Lande / Ohnedich», heisst es da. «Hier leb ich nicht, / hier träum’ ich bestenfalls»; die Sprecherin unterhält sich zwar gut, «doch immerzu / will ich ins Land, / das da heisst / Du.»
Was man in unbeschwerteren Zeiten vielleicht als metaphorische Rede über eine Paarbeziehung lesen kann, wird zur Entscheidung eines Landes. Sind wir das Land «Ohnedich», das seine Immigranten nur duldet, damit der Wunsch zur Rückkehr nicht nachlasse? Oder sind wir das Land «Du», das sich den Menschen öffnet? Oder kann sich ein Land «Ohnedich» gar zu einem Land «Du» mausern? Diese Fragen sind heute wieder neu zu beantworten.
Buch
Halyna Petrosanyak
Exophonien
Mit einem Vorwort von Ruth Schweikert
98 Seiten
(essais agités 2022)