Aus diesem aparten Gefäss soll die später hingerichtete Königin Marie-Antoinette getrunken haben. Wahr oder nicht, die frivole Milchschale aus der legendären Porzellanmanufaktur von Sèvres bei Paris zierte eine Molkerei, die eigentlich keine war: Marie-Antoinette liess sich 1785 ein künstliches Dörfchen, ein «Hameau», im Park von Versailles errichten. Das bäuerliche Ensemble sollte ihre romantischen Vorstellungen vom idyllischen Landleben befriedigen. Dazu gehörten unter anderem eine richtige Mühle, ein Taubenhaus und eben eine Molkerei – mit diesem reizenden Biskuitporzellan-Objekt.
Molkerei mit Marmor
Marie-Antoinettes Kulissen-Gebäude waren aufwendig inszeniert und luxuriös ausgestattet, etwa mit einer Wandverkleidung aus Marmor in der Molkerei. Personal in bäuerlicher Verkleidung sorgte für angebliche Authentizität; die Königin selbst liess sich in ländliche Gewänder hüllen. Wer dabei an Kitsch denkt, liegt richtig. Das mindert den Wert dieser künstlerisch verspielten Vorstellungswelt nicht.
Marie-Antoinettes Eskapaden sind dem neuen Bildband «Gefährliche Liebschaften – Die Kunst des französischen Rokoko» entnommen. Das herrliche Buch dokumentiert sinnlich verspielte Kunstformen mit ausführlichen Texten, die einzelne Werke erläutern und in einen verständlichen Zusammenhang rücken. Die «Liebschaften» begleiten eine Ausstellung im Frankfurter Liebieghaus, die bis Ende März dauert.
Der Titel erinnert an den gleichnamigen Briefroman des Schriftstellers Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos über das dekadente Liebesleben im 18. Jahrhundert, ein schlüpfriges Werk, das etliche Bühnen- und Filmadaptionen erfahren hat. Der Chronist notierte lustvoll, was die feinen Herrschaften alles so anstellen, und liess es seine Leserschaft ungefiltert wissen. Der scharfsinnige Denis Diderot misstraute indes diesen Lustbarkeiten und kritisierte die «Amoral, die künstliche Natürlichkeit und die Verlogenheit des Ancien Régime».
Französischer Rokoko ist eine von gesellschaftlicher Dekadenz geprägte Epoche. Das letzte Kapitel des französischen Adels war eingeläutet. Die herrschenden Kreise rund um den Hof übersahen jedoch die Zeichen der Zeit geflissentlich, wie der künstliche Bauernweiler von Versailles zeigt. Die Idealisierung der Landleute durch den Adel war geradezu grotesk, denn von ihnen sollten in ihrer Not die wichtigsten Impulse für den kommenden Umsturz ausgehen. In jener Zeit kam es regelmässig zu Bauernerhebungen wie etwa 1798: Grundbücher wurden vernichtet, um die Besitzverhältnisse zu sabotieren. Oder bewaffnete Bauern drangen in die Städte ein, brachen die Korn- und Salz-Speicher auf und forderten gerechtere Brotpreise.
Bedeutung der Schäfer
Die Nobilitäten ahnten möglicherweise, dass die idealisierten Bauern eines Tages aufsässig werden könnten, auch wenn sie ihnen keine tragende gesellschaftliche Rolle zutrauten. Deshalb standen die Schäfer in einem noch höheren gesellschaftlichen Ansehen, wie die Kuratorin Maraike Bückling in den «Liebschaften» schreibt: «So kam den Schäfern und Hirten in ihrer beschaulichen Ungezwungenheit und Natürlichkeit grosse Bedeutung zu. Sie wurden, im Gegensatz zu Bauern, wegen der ihnen zugesprochenen edlen Gesinnung als vorbildlich wahrgenommen.»
Diese Bewunderung war für viele Adlige erotisch aufgeladen, man denke nur an das romantische «Schäferstündchen» oder das «Schäferspiel». Die legendäre Madame de Pompadour (1721– 1764), zeitweilig eine der geschätzesten Geliebten von Louis XV., genoss es, in Theaterstücken die naive Schäferin zu spielen; sie schuldete das ihrem Status am Hof.
Madame beherrschte die Zwiesprache zwischen Kunst und Liebe perfekt. Als sie Mitte des 18. Jahrhunderts die erotische Gunst des Königs zusehends verlor, gab sie dem in der Schweiz geborenen Bildhauer Etienne-Maurice Falconet die Skulptur eines «Drohenden Amor» in Auftrag. Laut dem holländischen Experten Frits Scholten tat die Pompadour damit kund, dass ein neuer Amor in den königlichen Gemächern Einzug gehalten hatte und sie sich künftig auf die platonische Rolle der «Amie du roi» beschränkte – und so ihren Einfluss wahrte.
Erotische Fantastereien
Der erotisch-künstlerische Einfallsreichtum der herrschenden Schichten war in jener Zeit schier grenzenlos. Die romantische Liebe im Garten Eden beschäftigte etwa den Maler Antoine Watteau (1684–1721) intensiv, dessen Werk in dem Bildband prominent präsent ist. Er genoss bei den Mächtigen noch Jahrzehnte nach seinem Tod Wertschätzung, weil seine historisierenden Gemälde ihren erotischen Fantasien perfekt entsprachen. So zeigte er in seinem monumentalen Werk «Die Einschiffung nach Kythera» die Stufen der Verführung formidabel von rechts nach links. Das Gemälde zeigt die Paare bei lustvollen Spielereien, die bis hin zum Schiff als Liebesparadies führten. Die idealisierte Landschaft erscheint als ein natürliches Versteck, das sich geradezu zum Techtelmechtel anbietet. Die gesetzten Segel im Hintergrund erinnern eher an ein Himmelbett als an einen Kahn auf rauer See. Die Liebe und die Kunst sind hier in perfekter Symbiose aufgegangen: Die Kunst verführt zur Liebe, diese wiederum findet ihre Erfüllung in der Kunst.
Kritik an der Idylle
Wache Zeitgenossen misstrauten der Idylle schon damals, wie etwa der Dichter Jean-Baptiste- Louis Gresset (1709–1777), der als junger Man spottete: «Die ganze Welt war ländlich, alle Menschen waren Hirten.»
Zu einem ähnlichen Befund war der kritische Kunstkenner Jean-Baptiste Dubos (1670– 1742) gekommen: «Diese vorgeblichen Bauern haben nicht die geringste Ähnlichkeit mit unseren heutigen Landleuten und Hirten, welche unglückliche Bauern sind …» Wie wahr – und dennoch ist man dem damaligen Adel für seine kunstvollen Spielereien dankbar.
Buch
Maraike Bückling, Hsg.
«Gefährliche Liebschaften – Die Kunst des französischen Rokoko»
279 Seiten
(Hirmer 2015).