Ich lerne Azade wegen eines Sandsturms kennen. Der Bus bleibt auf offener Strecke stehen, zwei Stunden lang, ich weiss nicht, was los ist. Dann endlich fährt er weiter, biegt auf den nächsten Rastplatz ein, die meisten Passagiere gehen schnurstracks zur Toilette. Ich wende mich an eine junge Frau, sie spricht nicht nur Englisch, sie hat einen Bachelor darin, und sie erklärt mir, warum wir stehen bleiben. Azade, das bedeutet die Freie, reist mit ihrer 13-jährigen Schwester und ihrer Mutter von Schiras in die Wüstenstadt Yazd. Sie schenkt mir einige getrocknete Feigen, und als sie merkt, dass sie mir schmecken, gleich einen ganzen Sack. Und sie lädt mich ein, das baldige iranische Neujahr, Nouruz, am 20. März, bei ihnen in Schiras zu feiern. Am Tag vor dem Fest will ich einen Bus zurück nach Schiras nehmen, aber alles ist ausgebucht, auch die Züge, die Irani besuchen ihre Familien. So bleibt mir nur, ein Taxi zu nehmen, fünf Stunden dauert die Fahrt. In Schiras besuche ich die Moschee Nasir-olmolk. Sie ist bekannt für ihre Buntglasscheiben, die ein liebliches geometrisches Muster in den Innenraum werfen. In diesem farbigen Licht posieren Iranerinnen für ihr Instagram- Profil, eines der wenigen sozialen Medien, die vom Regime geduldet werden. Am Eingang gibt es Tschadors zur Ausleihe. Tschador bedeutet Zelt, ein treffender Name: Allein das Gesicht bleibt frei. Die meisten Iranerinnen tragen in der Öffentlichkeit ein über den Kopf gelegtes Tuch, das einen Teil der Haare unbedeckt lässt, und legen sich bloss für das Foto einen Tschador um – nicht, weil er vor geschrieben wäre in dieser Moschee, sondern weil er sich gut macht. Er ist weiss, wohl damit das Lichtmuster zur Geltung kommt, und nicht schwarz wie der Tschador der überzeugten Trägerinnen, die hier herumwuseln, um ihnen zu helfen, den Leih-Tschador für das Foto zu drapieren – wie ein Zelt eben. Ich treffe Azade, wir besichtigen ein Badehaus, dann das Grab von Hafis, eines Poeten, den die Irani sehr lieben. Jungen durchstreifen die Stadt mit dem Diwan, einer Sammlung seiner Gedichte, bieten Passanten an, das Buch zufällig aufzuschlagen, um in den vieldeutigen Zeilen Antworten auf Lebensfragen zu finden. Am späten Nachmittag nehmen wir ein Taxi zu ihrer Wohnung, wo ich ihre Mutter und Schwester wiedersehe, sowie ihren Vater kennenlerne. Kaum in der Wohnung, legt Azade ihr Kopftuch ab, auch ihre Mutter trägt drinnen keines. Ich erinnere mich an den Flug nach Teheran, keine Iranerin trug ein Kopftuch, erst bei der Landung warfen sie es sich über. Auf einem niederen Tischchen vor dem Sofa sind die Haft Sin sorgfältig drapiert, sieben Dinge, die mit S beginnen – so etwa Sir, Knoblauch, der Schutz symbolisiert, oder Serkeh, Essig, für Geduld. Diese sieben Dinge werden ergänzt durch weitere, etwa gefärbte Eier, und auch ein Buch darf nicht fehlen, und an der Wahl des Buches lässt sich erkennen, ob es sich um eine eher traditionelle oder liberale Familie handelt. Hier liegt der Diwan von Hafis, kein Koran. Nouruz ist ein altes Fest, es stammt aus vor-islamischer Zeit und wird zum astronomischen Frühlingsanfang gefeiert. Bevor wir die Wohnung verlassen, um zu Azades Grosseltern zu fahren, werfen sich Azade und ihre Mutter das Kopftuch über, ihre 13-jährige Schwester nicht. Ich erinnere mich, dass sie auch im Bus kein Kopftuch trug. Sie habe, so Azade, nie angefangen, eines zu tragen, obwohl das laut Gesetz für jedes Mädchen ab neun Jahren zwingend sei. Ihr Vater habe sie schon mehrfach darum gebeten, nicht weil er religiös wäre, sondern weil er sich um ihre Sicherheit sorge. Es seien nicht bloss die Moralwächter, die Frauen ermahnten, weniger Haare zu zeigen, sondern vor allem fromme Tschador-Trägerinnen. Azades Schwester wird von ihren Mitschülerinnen gerügt, die fast alle ein Kopftuch tragen. Was für ein bemerkenswertes und starkes Mädchen, das sich diesem Gesetz nicht beugt, seit Jahren einen stillen Protest vollzieht. Ich erinnere mich an ein Propaganda-Plakat: Es zeigt einen geöffneten Schokoriegel, er ist von Fliegen umschwirrt, darüber die Silhouette einer kopftuchlosen Frau. Der verschlossene Riegel zieht keine Fliegen an. Azades Grosseltern begrüssen mich freundlich. Ihr Grossvater erlebte die Revolution von 1978/79, als man den Schah loswurde, ohne zu wissen, was danach kommen sollte. Der Jahreswechsel findet nicht um Mitternacht statt, sondern um 19:03, der exakten Tagundnachtgleiche. Um diese Uhrzeit fallen sich alle in die Arme, der Grossvater umarmt mich wie einen alten Freund. Es ist nun das Jahr 1401. Auf dem Balkon grillt Azades Schwester Pouletspiesse auf einem Gasgrill, dann setzen wir uns auf die Teppiche im Wohnzimmer und essen das Fleisch mit Fladenbrot. Auf seinem Smartphone zeigt der Grossvater uns die Ansprache von Ali Chameini, dem moralischen Führer der islamischen Republik, aber nur, um sich darüber lustig zu machen. Über den Fernseher flimmert der Sohn des letzten Schahs, der Prinz Reza Pahlavi, der aus seinem US-amerikanischen Exil eine Ansprache ans iranische Volk hält. Ein halbes Jahr später, als Mahsa Amini in Polizeigewahrsam zusammenbricht, stirbt, weil sie eine Haarsträhne zu viel gezeigt hat, als Iranerinnen ihre Kopftücher in den Strassen verbrennen, als sie Zan, Zendegi, Azadi rufen, Frau, Leben, Freiheit, als der Prinz sagt, wir seien Zeuge der nächsten Revolution, da denke ich: Vielleicht wird Azades Schwester niemals ein Kopftuch tragen müssen.
Lukas Maisel
Lukas Maisel ist 1987 in Zürich geboren und absolvierte eine Drucker-Lehre, bevor er am Literaturinstitut in Biel studierte. Für seinen ersten Roman «Buch der geträumten Inseln» erhielt er unter anderem den Terra-nova- Preis der Schweizerischen Schillerstiftung. Zuletzt erschienen ist beim Rowohlt Verlag die Novelle «Tanners Erde».