Ich werde nervös, sobald ich mich beobachtet fühle. Ich höre auf, zu denken, und anstatt die Arbeit auf sinnvolle Weise fortzusetzen, simuliere ich sie nur noch, um dem Beobachter den Eindruck zu vermitteln, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht.
Dagegen spricht das chaotische Geschehen in der Wirklichkeit, wo Socken auf einmal im Geschirrspüler landen oder Umzugskisten übereinandergestapelt werden, bis sie einen schwankenden Turm bilden. Wer mir dabei zusieht, muss glauben, ich sei ein Idiot. Er hat teilweise recht.
Praktische Arbeiten verrichte ich genauso chaotisch, wenn mir niemand dabei zusieht. Doch es gibt viele Dinge, die ich für gewöhnlich vollkommen einwandfrei beherrsche. Fahrradfahren beispielsweise. In der sechsten Klasse kamen zwei Polizisten in unsere Schule, um uns das Fahrradfahren im öffentlichen Verkehr beizubringen. Sie hatten Räder mit dabei. Aus irgendeinem Grund durften wir nicht unsere eigenen benutzen. Die Räder der Polizei hatten mit jenen, wie wir sie kannten, nichts gemeinsam. Sie waren so niedrig, als wären sie zuvor in einem Kindergarten zum Einsatz gekommen. Ausserdem waren sie schwer und alt und rostig.
Beim Fahren machten sie quietschende Geräusche. Insgesamt vermittelten sie den Eindruck, als wären sie von einem psychopathischen Schrottnickel zusammengebastelt worden, um Schulkinder zu traumatisieren. Trotz den schwierigen Verhältnissen meisterte ich die Aufgabe problemlos. Fahrradfahren war mein Ding. Ich liebte es. Ich konnte es, seit ich vier Jahre alt war.
Bremsen, Beschleunigen, Einspuren, Abbiegen. Eine Meisterleistung. Dann kam ich zu einer Kreuzung und bemerkte auf der anderen Strassenseite einen der Verkehrspolizisten. Er hiess Nüssli und sah aus wie ein melancholisches Fragezeichen. Ich weiss, es ist sehr schwierig, sich etwas darunter vorzustellen, doch so sah er aus.
In diesem Moment geschahen zwei Dinge: Mein Hosenbein verwickelte sich in der Pedale, und ich fiel vom Rad. Herr Nüssli musste kommen und mich aus meiner Lage befreien, denn von allein schaffte ich es nicht. Das vorsintflutliche Ungeheuerrad hatte sich regelrecht in mich hineingefressen.
Während er mir kopfschüttelnd half (und sich dabei subtil in ein melancholisches Ausrufezeichen verwandelte), konnte ich sehen, was er dachte: Wenn ich mir nur schon in diesen paar wenigen Sekunden so viele lebensgefährliche Entgleisungen leistete, wie sah es denn erst auf der ganzen Strecke aus?
Und genau das ist mein Problem: Der Moment steht immer sinnbildlich für unser ganzes Leben. Darum stehe ich in der Gegenwart so sehr unter Druck. Und darum werde ich mich niemals ans Steuer eines Autos setzen. Herr Nüssli dürfte diese Entscheidung begrüssen. Ich kann nicht Auto fahren.
Dafür bin ich ein ganz ausgezeichneter Beifahrer. Denn gerade jene Eigenschaften, die mich fürs Fahren disqualifizieren, kommen mir für diese Rolle zugute: übergrosse Vorsicht, Zweifel an mir und der Menschheit im Allgemeinen sowie ein Nihilismus mit fatalistischem Potenzial.
Fragen Sie meine Frau: Autofahren in meiner Gesellschaft ist ein Genuss. Stets ruht mein wachsames Auge auf dem Verkehr, um jede Gefahrenquelle zu identifizieren. «Da war ein Lastwagen», kann ich etwa vermelden. Oder «mir scheint, es ist grün». Dass diese Bemerkungen oft viele Minuten zu spät kommen, ist Teil ihres Charmes. Denn dadurch zeige ich meiner Frau, dass ich keinerlei Zweifel an ihrem Können hege.
Gleichzeitig gebe ich ihr zu verstehen, dass mir unser Schicksal nicht egal ist. Das hier ist unsere gemeinsame Reise. Deine verpasste Ausfahrt ist meine verpasste Ausfahrt. Besonders gut bin ich im Sichten freier Parkplätze. Ich habe einen siebten Sinn für sie. Ich sehe sie überall, selbst dann, wenn wir gar nicht parken wollen. Hand aufs Herz: Das war nicht immer so.
Zu Beginn meiner Karriere als Beifahrer habe ich meine Aufgabe sehr viel passiver interpretiert. Ich dachte tatsächlich, man liesse sich dabei einfach vom anderen herumfahren, während man seinen eigenen Gedanken nachhängt oder die Zeit gar für ein kleines Nickerchen nutzt. Meine Frau gab mir dann zu verstehen, dass sie mit dieser Interpretation nicht einverstanden ist.
Da ich aus einer Lehrerfamilie komme, nahm ich mir ihre Kritik zu Herzen. Ich arbeitete an mir und machte eine Entwicklung durch. Und so wurde ich zu dem genialen Beifahrer, der ich heute bin. Wie gesagt, manifestiert sich diese Virtuosität vor allem im Spotten von Parkplätzen.
Ich sehe Lücken, wo andere nur Räder sehen. Auch habe ich ein Gespür dafür, den Moment zu erahnen, wo gerade etwas frei wird. Oder Parkhäuser. Ich kann rein von ihrem äusserlichen Anblick erkennen, wie viele Parkplätze noch zur Verfügung stehen. Ich könnte bei «Wetten, dass ..?» auftreten (ein Einfall, der mich noch älter macht, als ich sowieso schon bin) oder mich fürs Guinness-Buch der Rekorde bewerben.
Aber ich will nicht. Ich will nur meiner Frau ein gutes Gefühl geben – das sie im Übrigen sowieso nicht hat. Meine Frau hasst Autofahren. Den Verkehr. Die anderen Fahrer. Ihren genialen Beifahrer, der sich mit seinen Ängsten vor der Verantwortung drückt und sie die ganze Arbeit allein machen lässt. «Und wenn ich Autofahren lerne?», schlage ich vor.
Wir stellen es uns vor, und synchron zieht vor unserem geistigen Auge die Karawane von Autos vorbei, die von mir zu Schrott gefahren würden. «Entsetzlich», murmle ich. «Das dürfen wir nicht zulassen», bestätigt meine Frau. Weniger ist manchmal mehr. Es geht um unsere Sicherheit. An dieser Stelle muss man sich ein triumphales Ausrufezeichen denken.
Zur Person
Lukas Linder ist 1984 im zürcherischen Uhwiesen geboren. Er studierte Germanistik und Philosophie an der Universität Basel und ist als Dramatiker tätig. Seine Stücke gelangten im gesamten deutschsprachigen Raum zur Aufführung. Unter anderem schrieb er für das Theater Basel. Er wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Soeben ist sein dritter Roman «Charly Broms Dilemma» bei Kein & Aber erschienen. Lukas Linder lebt in der Nähe von Zürich.