Alfred ist der jüngste Spross der alteingessenen und schwerreichen Berner Familie von Ärmel: Er erzählt von seiner abgedrehten Mutter, dem schrulligen Vater, seinem genialen Bruder und anderen schrägen Mitgliedern der Familie. Der kulturtipp veröffentlicht einen Auszug aus dem ersten Kapitel.
Später entwickelte Mutter ein Faible für amerikanische Strassenkünstler. Sie flog nach New York, nach Chicago und San Francisco, wo man diese Strassenkünstler «regelrecht wie Pilze» pflücken konnte.
Als sie in der Kunsthalle eine Vernissage für ein paar von ihnen organisierte, war ich noch ganz klein. Sie hatte die ganze Berner Schickeria zu dem Anlass eingeladen. Allesamt Männer, allesamt Bewunderer. Ich erinnere mich noch genau an den Abend, denn es war das erste und das letzte Mal, dass Grossmutter zu unserer Betreuung abberufen wurde. Damals schwärmte ich für Mary Poppins, Grossmutter aber hatte sich vorgenommen, als deren Antithese aufzutreten. Sie kam mit einem grotesken Hut und den Worten «Abmarsch ins Bett, und wer nicht spurt, der kann was erleben». Um halb sieben lagen wir zitternd unter der Decke. Thomas hatte vor Grossmutters Ankunft geprahlt, er werde an diesem Abend das Match der Young Boys im Fernsehen schauen, und zwar beide Halbzeiten. Nun war von dieser Tollkühnheit nicht mehr viel zu spüren. Er lag im Bett über mir und zitterte nicht weniger.
«Thomas», sagte ich, «wolltest du nicht die Young Boys schauen?»
«Halt die Klappe.»
In diesem Augenblick hörten wir Schritte im Flur. Bronchitische Atemgeräusche. Und dann waberte ein säuerlicher Geruch ins Kinderzimmer hinein.
«Schlaft ihr?»
Das war eine Fangfrage. Ich hielt den Atem an und dachte an meine Mutter. Ich stellte mir vor, wie sie in der Kunsthalle von ihren Verehrern umgarnt wurde. Da standen sie in schierer Ekstase, erpicht darauf, zumindest im duftenden Abglanz ihrer Aura zu stehen.
«Was für eine Frau», riefen sie. «Welch eine Diva! Welch ätherisches Wesen!»
Da war der stadtbekannte Metzgermeister. Er hatte ihr einen saftigen Schinken mitgebracht, den er triumphierend durch die Ausstellungsräume schleppte. Derweil flüsterte ihr der knöchrige Herr Magnat, Mutters Leib- und Magenjuwelier, ins Ohr: «Ich habe da so ein Diadem bekommen. Teuflisch, wie gemacht für Ihr Schwanenhälschen.»
Alles gurrte und schnurrte und badete im Elixier meiner Mutter, von dem die Männer unserer Stadt einfach nicht genug bekommen konnten.
Irgendwann fragte jemand: «Wo sind eigentlich diese amerikanischen Strassenkünstler?»
«Draussen auf der Strasse», sagte Mutter.
Und als wäre dies eine sehr stimmungsvolle Erklärung, rief jemand: «Zum Wohl.»
Und das Fest ging weiter.
Währenddessen irrte Vater die Wände der Kunsthalle entlang. Er war der Einzige an diesem Abend, der sich die Bilder wirklich anschaute. Und nicht nur das. Er las auch alle Begleittexte. Erst auf Deutsch, dann auf Englisch. So kann man gleich seine Fremdsprachenkenntnisse aufbessern, sagte er sich. Nun aber hatte er wirklich alles gesehen, alles gelesen, und noch immer wollte dieser Abend kein Ende nehmen. Er hätte gerne ein Gespräch geführt, jedoch nicht mit diesen Menschen. Im Museumsshop hatte er sich erkundigt, ob sie auch Zeitungen verkauften. Die Verkäuferin hatte ihn so entgeistert angesehen, dass er sich zu einer Entschuldigung verpflichtet gefühlt hatte. Er balancierte seinen Arbeiterkörper durch die Ausstellung, wobei er versuchte, besonders lässig zu wirken. Doch taten ihm die Füsse weh, und ausserdem hatte ihn eine korpulente Dame gefragt, ob er einen Moment ihr Weinglas halten könne. Das war jetzt zwei Stunden her.
Schlag zehn hielt er es nicht länger aus, setzte sich ins Auto und hörte die Nachrichten. Zwanzig Kilometer stockender Verkehr vor dem Gubristtunnel. Er seufzte. Vor der Eingangstüre standen die amerikanischen Strassenkünstler und rauchten.
«How do you do?», sprachen sie ihn an.
«Fine. Thank you», reagierte Vater geschickt.
Einen Moment überlegte er, ob er vom stockenden Verkehr berichten sollte, wusste jedoch nicht, was stockender Verkehr auf Englisch hiess. Und dann sagte er sich, dass der Gubristtunnel für amerikanische Strassenkünstler wahrscheinlich sowieso nicht von grosser Bedeutung war.
Er sehnte sich nach guten Gesprächen. Wenn es aber mal dazu kam, fühlte er sich gefangen, als trage er einen kratzigen Pullover, der ausserdem zu klein war, und er verspürte den Drang, das Gespräch so schnell wie möglich zu beenden.
«Do you smoke?», fragte einer der Strassenkünstler.
Vater schüttelte den Kopf.
«I have a pipe», sagte er, eine Art Pfeife mit den Händen darstellend. «But I have forgotten it at home.»
Drinnen war Mutter gerade dabei, eine überlebensgrosse Torte anzuschneiden, die ein bekannter Confiseur eigens für sie kreiert hatte.
«Ich habe mich gerade mit deinen amerikanischen Strassenkünstlern unterhalten», raunte Vater ihr zu. «Das sind feine Kerle.»
«Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht mit ihnen reden», schimpfte sie. «Es verwirrt dich nur.»
Als er die Toilette aufsuchte, kamen kurz nach ihm zwei Männer herein. Sie stellten sich nebeneinander am Pissoir auf und begannen, sich über Mutter zu unterhalten. Vater sass in seiner Kabine und hielt sich die Ohren zu. Doch seine Hände waren zu alt, zu schwach, zu durchlässig. Er hatte einfach zu viele Finger. Vielleicht lag es aber auch an seinen Ohren. Sie waren zu gross, viel zu gross. Da fiel ihm ein alter Trick ein, und er stimmte aus Leibeskräften ein Marschlied aus seiner Armeezeit an.
Lukas Linder
1984 im Kanton Zürich geboren, hat Lukas Linder in Basel Germanistik und Philosophie studiert. Als Dramatiker hat er unter anderem für das Theater Basel geschrieben. Für seine Theaterstücke wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Kleist-Förderpreis. Sein Romandebüt «Der Letzte meiner Art» erscheint am 18. September bei Kein & Aber.
Buch
Lukas Linder
Der Letzte meiner Art
272 Seiten
(Kein & Aber 2018)
Erhältlich ab Di, 18.9.