In diesem Haus kann ein kleines Kind nachts einfach verschwinden. Niemand weiss wohin. Unheimlich ist es im Finsteren, nicht einmal die Hand sieht man vor den Augen. Erst wenn es hell wird, kommt sie wieder zum Vorschein, Martha liegt dann neben Frieda stumm da. Die Matratze ist hart und schmal. Im Winter steigt nur wenig Wärme zur Dachkammer, da tut es gut, sich an die Schwester zu schmiegen. Aber sie flüstert Martha manchmal unheimliche Dinge ins Ohr, vom Grossen ohne Kopf, der herumschleicht, bevor es Tag wird. Man sieht ihn nicht. Da versperrt Martha ihre Ohren, sie hat gelernt, wie man das macht. Auf der grösseren Matratze nebenan liegen die vier Brüder unter der geflickten Decke, zwei oben, zwei unten, die haben manchmal die Füsse der anderen im Gesicht, das gibt zu lachen oder zu schimpfen. Emil, der Älteste, kann deswegen sogar laut fluchen. Als der Vater noch auf den Beinen war, hat er Emil deswegen geschlagen, Gott darf man nicht lästern. Jetzt muss der Ätti schon lange unten neben dem Ofen liegen, er klagt über Schmerzen, kann sich kaum bewegen. Aber der Ofen wird nicht richtig warm, sie wohnen hier und haben zu wenig Holz. Das Kleinholz, das die Kinder im Wald sammeln, reicht nicht aus.
«Wir sollten mit Kohle heizen können», sagt die Mutter, «aber Kohle ist zu teuer für unsereinen.»
Einer kommt manchmal mitten in der Nacht,den ich nicht sehe. Aber er macht Geräusche, ganz leise,und doch lauter als der Wind draussen, lauter als das Atmen vom Ätti.
Als der Vater noch gesund war und herumzog, um mit der Rute Wasser aufzuspüren und Brunnen zu bauen, bekam er dafür Geld von den Bauern, grössere und kleine Münzen, die er den Kindern zeigte. Dann wollte er, wie schon oft, einen Schacht sprengen, die Explosion kam zu früh und warf ihn um, sie hat ein Bein verletzt, es bleibt krumm, strecken kann er es nicht mehr. Seit diesem Unfall kommt kaum noch Geld ins Haus, Medikamente sind zu teuer, sagt die Mutter, den Doktor können wir uns nicht leisten. Aber sie macht für den Vater Umschläge aus Heilpflanzen, die das Eitern verhindern. Sie hilft benachbarten Bauern mit der Wäsche gegen Brot, manchmal einem Stück Fleisch, die älteren Buben bewachen das Vieh auf der Weide, bekommen dafür eine Münze. Oder sie lesen bei den Bauern Obst aus dem Gras, das sie behalten dürfen und ungern mit den Jüngeren teilen, ausser Karl, der fast immer schweigt, er hat eine Vorliebe für Martha, die Zweitjüngste, die aber die Kleinste ist, zwei Finger kleiner als Trudi.
Der Ätti stöhnt oft, manchmal setzt sich Martha neben ihn, hält eine Weile seine Hand, das tue ihm gut, sagt er, lächelt sogar wie früher, als er den Kindern Geschichten erzählte, von Zwergen im Wald, die miteinander streiten und sich in den Bach schubsen, bis sie vor einem jungen Fuchs davonlaufen. Er machte das Geschrei der Zwerge mit hoher Stimme nach und brachte die Kinder zum Lachen. Nun ist er zu müde für solche Geschichten. Vielleicht stirbt er bald, das hat Frieda nachts Martha ins Ohr geflüstert, sie wollte es nicht hören und stellte sich taub. Wie mochte sie es doch, wenn der Ätti, als er noch gesund war, mit seiner rauen Hand über ihre Wange strich, wenn er sie hochhob, als wäre sie federleicht, und hin und her wiegte. Alle wollten hochgehoben werden, sogar die Grossen, und sie warfen ihm vor, er bevorzuge Martheli, das sei ungerecht. «Das macht er», sagte Emil, «weil du so klein und zart bist.» Aber zäh ist Martha auch mit sieben Jahren, und lesen hat sie von den Älteren gelernt, wenn sie um den Küchentisch herumsassen und ihr die Buchstaben beibrachten. Martha mochte das runde O, aber auch das M, ihren Anfangsbuchstaben. Das Schreiben ergab sich dann wie von selbst. Die Lehrerin oben im Schulhaus staunte, als sie feststellte, dass Martha die Buchstaben schon kannte; aber sie ist geizig mit Loben, das sagen alle, und sie duldet kein Geschwätz. Darum senkt Martha den Kopf und presst die Lippen zusammen, wenn das Fräulein vor ihr steht und Marthas Schrift kontrolliert. Die Buchstaben seien zu flüchtig geschrieben, tadelt sie, aber auch wenn Martha sich Mühe gibt, sind sie nie gerade genug.
Das M möchte ich gerne einmal über die ganze Seite schreiben wie eine Tür, die sich öffnet. Aber da bekäme ich eine Strafarbeit.
In der Suppe, die die Kinder abends löffeln, schwimmt kaum mehr Fleisch, sie ist dünn, hat keine Fettaugen, schmeckt nach Salz, davon haben sie noch genug. Aber satt wird man nicht davon. Es ist auch nicht klug, auf dem Schulweg unreife Äpfel aufzusammeln und in sie hineinzubeissen, davon bekommt man Bauchweh.
Die Mutter ist ihr fremder als der Vater, sie hat so viel zu tun, schaut manchmal durch die Kinder hindurch in die Ferne, als ob sie durchsichtig wären. Die zwei älteren Mädchen helfen ihr beim Waschen und Zusammenlegen der trockenen Hosen und Röcke. Aber manchmal scheint es, als ob sie ihre Hilfe gar nicht bemerkt, als ob jemand anderes in ihr drin sie lähmt. Die Kleinen versuchen, sie am Rockzipfel hierhin oder dorthin zu ziehen, die grossen Buben maulen, wenn ihnen etwas verboten wird, und plötzlich schilt sie laut mit ihnen, während der Vater stumm auf dem Sofa liegt. Nur selten hört man einen Seufzer von ihm. In letzter Zeit will er, wenn Martha eine Weile bei ihm sitzt, einfach ihre Hand halten, sie soll ihn wärmen, flüstert er, aber ihre Hand wird nun so kalt von seiner, dass sie sich zu fürchten beginnt.
Lukas Hartmann
Lukas Hartmann, 1944 in Bern geboren, hat Germanistik und Psychologie studiert. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Spiegel bei Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und Kinder. Zuletzt ist sein Roman «Schattentanz» (Diogenes 2021) über den Maler Louis Soutter erschienen. Für seine Romane wurde er mehrfach ausgezeichnet.