Nach der Landung in Czernowitz, Ukraine, eine kurze Gehstrecke zum Flughafengebäude. Ich warte, bis die Koffer mit Kleinbussen zum Eingang gebracht, von Hand ausgeladen und hingestellt werden. Kein Rollband. Ich werde abgeholt von einem Mitarbeiter des Zentrums Gedankendach, einer Vermittlungsorganisation für deutsche Besucher, die in Czernowitz die Vergangenheit suchen, das Klein-Wien der Jahrhundertwende, wie die Stadt in ihrem jüdisch dominierten Völkergemisch genannt wurde. Das Hotel AllureInn, wo ich untergebracht bin, liegt am Anfang der ehemaligen Herrengasse, die tatsächlich in vielem an die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie erinnert, zu der Czernowitz am östlichen Rand des Reichs gehörte.
Am nächsten Tag stehe ich, abends gegen sechs, vor einem Kino in Czernowitz. Das Gebäude ist aus den Resten der ehemaligen Synagoge in der Oberstadt entstanden, die Kuppel wurde zerstört. Hier sang der junge Joseph Schmidt zuerst im Kinderchor mit und wurde später Vorsänger, Kantor, bevor er, als Ausnahmetalent, zum Gesangsstudium nach Berlin ging und von dort aus, dank den Rundfunk-Übertragungen, in den deutschsprachigen Ländern, in Belgien und Holland und später auch in den USA berühmt wurde. Weltberühmt sei er, stand bis 1933 in den deutschen Zeitungen, ganze Stadien füllte er bei seinen Konzerten, und das Publikum drängte sich in die Kinosäle, wo die Filme mit ihm in der Hauptrolle, allen voran «Ein Lied geht um die Welt», gezeigt wurden. Über 30 Prozent der Bevölkerung von Czernowitz waren damals Juden, sie sprachen hauptsächlich Jiddisch; die jüdische Elite in der Oberstadt unterhielt sich lieber auf Deutsch.
Weit weg ist diese Epoche, ungefähr noch 100 Juden leben heute in Czernowitz. Hier, im Vestibül des Kinos, stehen Jugendliche herum, sie unterhalten sich lebhaft auf Ukrainisch, warten auf die nächste Vorstellung. Die meisten seien arbeitslos, erzählt mir Switlana, meine Dolmetscherin, sie hangeln sich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten. Nur wenige sind in der Lage, sich auf Englisch zu verständigen; Deutsch spricht niemand.
Im Halbdunkel entdecke ich eine Gedenktafel für Schmidt. Sein Porträt im Halbprofil wirkt jugendlich, beinahe heldenhaft, daneben, unter dem Davidstern, eine Inschrift mit den Lebensdaten, 1904–1942. Schmidts Weg, das steht hier nicht, führte von den Grosserfolgen ins Flüchtlingselend, von der Bukowina über Berlin und Wien in die Schweiz, ins Interniertenlager Girenbad im Zürcher Oberland, wo er, mit 38, unter ungeklärten Umständen starb. Zu jener Zeit war Czernowitz in sowjetischer Hand, die meisten Juden wurden deportiert. Schmidt, krank in der Schweiz, wusste nicht, ob seine Mutter noch lebte.
Der Weg in die Unterstadt führt treppab zur Grenze des ehemaligen Ghettos, in dem bis 1939 der Hauptteil der jüdischen Bevölkerung lebte. In kurzer Distanz die ehemalige Synagoge der orthodoxen Juden, sie wirkt äusserlich verfallen, es riecht nach geröstetem Kaffee, und in der Tat haben dort zwei junge Männer eine Kaffeerösterei eingerichtet, mit neuster Technologie und einem Espresso-Automaten. Hier habe der orthodoxe Rabbi, höre ich später, die Gläubigen in starker Abhängigkeit gehalten, im Gegensatz zur oberen Synagoge, dem jetzigen Kino, wo ein aufklärerischer Geist herrschte. Schmidts Vater, Kleinbauer im nahen Davideny, war ein Chasside. Ohne die musikliebende Mutter hätte er es dem Jungen nicht erlaubt, Geigen- und Gesangsunterricht zu besuchen und weltliche Lieder zu singen; Joseph sollte sich, wie es die Tradition vorschrieb, streng aufs Beten und die Lektüre der Thora beschränken.
Die Holperfahrt mit Oxana, der Leiterin des Gedankendachs, nach Davideny, dem Geburtsort von Schmidt, etwa 40 Kilometer auf staubigen, von tiefen Schlaglöchern übersäten Strassen. Dürrer Mais dominiert die Felder, dazwischen am Boden reife Kürbisse, ältere Frauen mit Kopftuch; einen einzigen Traktor sehe ich. Unser Taxi hinterlässt eine dichte Staubwolke. Das Dorf, das ich erwartet habe, ist gar keines, es ist eine weiträumige Streusiedlung. Im alleinstehenden Schulhaus, das über 300 Schülern Platz bietet, werden wir von drei imposanten Lehrerinnen erwartet, eine ist die Bezirksleiterin und trägt eine bestickte Trachtenbluse. Sie führen uns über frisch geschrubbte Holztreppen in einen Vortragsraum. Oxana und ich werden an ein Pult komplimentiert, auf dem mit Wurst oder Sardinen belegte dünne Schwarzbrotscheiben für uns bereitliegen, dazu wird Wasser oder Tee angeboten. Drei 15-jährige, sonntäglich gekleidete Schülerinnen, wohl die besten der Schule, haben einen Vortrag über Joseph Schmidt vorbereitet, der sich aus Internet-Recherchen zusammensetzt, sie lesen, von Oxana übersetzt, die Passagen von handbeschriebenen Blättern ab, rühmen Schmidt als grössten Sänger seiner Zeit, er sei auf seiner Flucht über die Schweizer Grenze durchs Gebirge geirrt und erfroren. Nein, er sei erwiesenermassen in einem Internierungslager gestorben, wende ich ein. Die verantwortliche Lehrerin erklärt mir barsch, zu Schmidts Tod gebe es unterschiedliche Versionen, jedenfalls werde sein Andenken auch heute noch in seinem Geburtsort hochgehalten. Dann werden Lieder und Arien von Schmidt über ein Kassettengerät abgespielt, das deutsche Gönner und Schmidt-Verehrer für die Schule gespendet haben.
Ein Tag später. Wieder unterwegs mit Switlana in Sadagora, einem Vorort von Czernowitz. Wir überqueren in einer rasanten Taxifahrt den Pruth, stoppen vor der Brücke, die dann Switlana und ich zu Fuss überqueren. Da unten strömt das dunkelbraune Wasser gemächlich dahin, Schmidt hat ihn geliebt, diesen Fluss, wie er selbst erzählte, am Ufer vielleicht die hebräischen Gesänge geübt, die er schon als Halbwüchsiger in der Synagoge vortrug.
Je näher wir der Innenstadt kommen, desto dichter wird der Autoverkehr, desto grösser Switlanas Atemnot und das Brennen in ihren Augen. Mit schwärzlichen Abgasen empfängt uns die neue Zeit. Davon hat Schmidt, als er am Pruth Kühe hütete, so wenig geahnt wie vom künftigen Schicksal der Juden.
Lukas Hartmann
Der 1944 in Bern geborene Lukas Hartmann lebt als freier Schriftsteller in Spiegel bei Bern. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren und feiert mit seinen Romanen regelmässig Erfolge, zuletzt 2018 mit «Ein Bild für Lydia» über das Leben von Lydia Welti-Escher. Sein neuer Roman «Der Sänger» erscheint am 24.4. bei Diogenes. Er erzählt vom Schicksal des Tenors Joseph Schmidt. Dafür begab sich Hartmann auf Spurensuche in die Ukraine, Joseph Schmidts Heimat. Hartmanns Reportage über diese Reise lesen Sie hier in gekürzter Form als exklusiven Vorabdruck.
Buchpremiere «Der Sänger»
So, 28.4., 16.00
Paul Klee Zentrum Bern
Mit Tenor Luca Bernard und Pianist Hans Adolfsen