Beginnt man mit der Lektüre des neuen Romans von Lukas Hartmann, legt man das Buch nur widerwillig aus der Hand. Dabei ist der Schweizer Schriftsteller bei Weitem nicht der erste, der sich der traurigen Geschichte der Millionenerbin Lydia Welti-Escher (1858–1891) annimmt. Im Roman «Ein Bild von Lydia» entwirft er mit präziser, schnörkelloser Sprache das Bildnis einer Frau, welches das gemalte Werk ihres Geliebten Karl Stauffer weit in den Schatten stellt.
Der Maler wird zum Geliebten
Lydia Escher wird am 10. Juli 1858 als Tochter des «Eisenbahnkönigs» Alfred Escher geboren und wächst in der Villa Belvoir in Zürich Enge auf. Bereits im Alter von sechs Jahren stirbt ihre Mutter; Grossmütter und Erzieherinnen kümmern sich fortan um Lydia. Als einziges Kind aber unterstützt sie ihren Vater schon in jungen Jahren und übernimmt früh die Rolle als Gastgeberin. Mit 25 Jahren heiratet sie den Bundesratssohn Friedrich Emil Welti. Der angeblich mittelmässige Anwalt wird damit zum «gemachten Mann» und kann fortan in Politik und Wirtschaft mitmischen.
Die kluge, gebildete und kunstinteressierte Lydia hingegen langweilt sich in ihrer Rolle als Hausherrin. Bis 1887 Weltis Jugendfreund und Maler Karl Stauffer in ihr Leben tritt. Er hat den Auftrag, ein Bildnis von Lydia zu malen. Mit der Zeit entspinnt sich eine Liebe, und bald machen Gerüchte die Runde.
Die Verlegung des Wohnsitzes der Weltis von Zürich nach Italien bringt keine Beruhigung. Im Gegenteil: Die Liebe zwischen Stauffer und Lydia wird stärker. Als Lydia sich von ihrem Mann scheiden lassen will, um ihren Geliebten zu heiraten, wird sie ins Irrenhaus in Rom eingeliefert; Stauffer landet im Gefängnis. Lydia wird zwar nach sechs Monaten wieder entlassen, lässt sich scheiden und zieht nach Champel bei Genf. Allerdings distanziert sie sich von Stauffer. Dieser nimmt sich im Januar 1891 das Leben, Lydia folgt ihm im Dezember in den Tod.
Aus der Sicht der Kammerzofe
Lukas Hartmann erzählt diese tragische Liebesgeschichte aus der Sicht von Lydias Kammerzofe Luise Gaugler. Diese kommt im Sommer 1888 in Lydia Weltis Dienste und wird zur treuen Begleiterin. Sie ist auf der Reise nach Italien dabei, unterstützt Lydia während ihres Aufenthalts in der Psychiatrie in Rom und später in ihrem neuen Heim am Genfersee. Sie ist jung, unerfahren und stammt aus einfachen Verhältnissen. Sie hat gelernt, ihre Arbeit gewissenhaft zu verrichten, kritische Gedanken so schnell wie möglich zu verdrängen, als stumme Beobachterin loyal und verschwiegen zu agieren.
Luise ahnt oft, woran Lydia leidet, doch zu helfen vermag sie nicht. Etwa, wenn mit dieser «Befremdliches geschieht». Wenn sie wirkt, «als senke sich ein Schleier über ihr Gesicht, als verliere es die Klarheit». Nach all den Jahren des Zusammenseins gelingt es ihr noch, Lydia aus den Fluten des Flusses zu retten, als Lydia später den Gashahn im grossen Badezimmer öffnet, kommt Luise zu spät.
Ein unglaublich starkes Buch, das an Herz und Nieren geht.
Lesungen
Sa, 3.3., 20.00 Bsinti Lesecafé & Kulturbar Braunwald GL
Di, 6.3., 20.00 Bibliothek Eglisau ZH
Weitere Lesungen: www.lukashartmann.ch
Buch
Lukas Hartmann
Ein Bild von Lydia
368 Seiten
(Diogenes 2018)
7 Fragen an Lukas Hartmann
«Ein flirrendes Wechselspiel von Nähe und Distanz»
kulturtipp: Sie haben mit «Lydia» ein Buch geschrieben, das die Leser zutiefst berührt. Wie geht es Ihnen nach dem Niederschreiben als Autor?
Lukas Hartmann: Für mich ist es erlösend, dass nun so positive Reaktionen eintreffen. Aber andere wird es auch geben, klar. Die Phase kurz vor der Veröffentlichung eines neuen Buchs ist – nicht nur bei mir, wie ich weiss – von starken Zweifeln dominiert: Habe ich den richtigen Stoff gewählt, die richtige Form gefunden? Bin ich den Figuren gerecht geworden? Habe ich mein Bestes gegeben?
10 Jahre lang hat Sie die tragische Geschichte der Lydia Welti-Escher beschäftigt, bevor Sie sich an den Roman wagten. Erinnern Sie sich, wie Sie auf diesen historischen Stoff gestossen sind?
Ich habe schon als Jugendlicher die Porträt-Radierungen von Karl Stauffer-Bern bewundert und sie laienhaft zu kopieren versucht. 2007 gab es im Kunstmuseum Bern eine Ausstellung zu seinem Gesamtwerk, und da bin ich auf die unglückliche Liebesgeschichte mit Lydia Welti-Escher gestossen, von der ich vorher keine Ahnung hatte. Je mehr ich darüber erfuhr, desto klarer wurde mir, dass in diesem Dreiecksdrama eine Geschichte steckt, die mit ihrem Konflikt zwischen Politik, Macht und verhängnisvoller Liebe auch heute aktuell ist, wie nicht nur die Debatte um #metoo beweist.
Was gab nach all den Jahren den Ausschlag, das Buch in Angriff zu nehmen?
Es war einfach Zeit dafür, mehr kann ich jeweils nicht sagen. Ich beginne mit den Recherchen und bin jeden Tag ein wenig überzeugter, dass daraus ein Buch werden kann. Ich gehe von den dokumentierten Fakten aus, aber mich interessieren dann vor allem die Handlungsweisen, die emotionalen Verstrickungen der handelnden Personen.
Was hat Sie veranlasst, aus der Sicht der Kammerzofe Luise zu schreiben?
Die Möglichkeit, mich den Ereignissen aus einer naiveren Sicht anzunähern. Luise, dem Kammermädchen aus einfachsten Verhältnissen, ist zunächst vieles fremd. Sie begreift aber im Lauf der Zeit immer mehr, fängt an, sich mit ihrer Dienstherrin zu identifizieren, sie aber auch innerlich zu kritisieren. Ich habe mit dieser Form ein oft flirrendes Wechselspiel von Nähe und Distanz angestrebt, das ja auch mit mir, dem Autor, zu tun hat.
Haben Sie nie daran gedacht, die Perspektive von Maler Stauffer einzunehmen?
Nein, ich hätte dann ein anderes Buch schreiben müssen, eines über einen von masslosem Ehrgeiz getriebenen, innerlich zerrissenen Künstler und Erotomanen. Das wollte ich nicht. Stauffer hatte übrigens sein Atelier in Rom an der Via Margutta; das war auch die Adresse von Frisch, als er seine Affäre mit Ingeborg Bachmann durchlebte.
Wie nah oder fern blieben ihnen dabei die Weltis?
Der Bundesratssohn und Ehemann von Lydia kam mir in seiner Ambivalenz und seinem Gehorsamszwang gegenüber dem Vater, im Elend des emotional verkümmernden Sohns durchaus nahe; den Bundesrat selber liess ich als «steinernen Gast» bewusst im Hintergrund.
Was geschah mit Luise nach dem Tod von Lydia?
Sie ist schon im August 1897 in Bex gestorben, vermutlich an der Geburt des dritten Kindes, das sie mit Henri Lobstein hatte, den sie im Juni 1893 heiratete. So viel konnte ich im Archive d’Etat von Genf herausfinden.